Duell: Island Krimi (German Edition)
über. Sie mussten sich aber an die Vorschrift halten, dass Besucher das Sanatorium nicht betreten durften. Sie standen deswegen vor den unteren Fenstern an der Südseite des Gebäudes und unterhielten sich von dort aus mit den Verwandten. Oft war es sehr schwierig für Eltern und Kinder, auf diese Weise voneinander getrennt zu sein, und manchmal drang herzzerreißendes Weinen bis zum nahe gelegenen See.
Wie schon in vielen anderen Sommern zuvor hatte man vor dem Sanatorium Zelte für einige der Patienten errichten müssen. Der Bedarf an Betten war so groß, dass nicht alle Kranken im Haus untergebracht werden konnten. In diesen Zelten wurden allerdings nur Männer untergebracht. Auf dem Gelände des Spitals befanden sich ansonsten das Haus des Oberarztes und ein riesiger Stall für die Kühe, denn in Vífilsstaðir hielt man eigene Kühe.
Der Oberarzt war mittleren Alters und hatte große, vertrauenerweckende Hände. Das Haar trug er glatt nach hinten gekämmt. An diesem Sonntag war er ohne seinen weißen Kittel kurz vorbeigekommen, um sich nach dem Befinden von Marian und den anderen Kindern zu erkundigen.
»Doch, ja«, antwortete Marian, dankbar für die Warmherzigkeit, die in den Worten des Arztes mitschwang. Der Arzt hatte in seiner Laufbahn bereits oft genug mit ansehen müssen, wie lebensfrohe Menschen ihren heldenhaften Kampf gegen den Tod verloren hatten, diese leidvolle Erfahrung konnte man ihm an den Augen ablesen. Marian hatte irgendwo gelesen, dass die Sterblichkeitsrate bei Tuberkulose-Kranken auf Island eine der höchsten in der Welt sei, ein Fünftel aller Todesfälle auf der Insel ließ sich auf diese Krankheit zurückführen.
»Wir müssen zunächst einmal der kranken Lunge Ruhe gönnen. Das machen wir mit der Pneumothorax-Methode, von der ich dir schon erzählt habe, als du zur Durchleuchtung gekommen bist. Davor brauchst du dich nicht zu fürchten, es ist ein einfacher Eingriff, aber vielleicht ein wenig schmerzhaft. Wir können von Glück reden, dass die Tuberkulose sich bei dir nur in einem Lungenflügel angesiedelt hat, und wir werden alles dafür tun, dass das auch so bleibt. Wir wollen um jeden Preis verhindern, dass sich die Krankheit ausbreitet.«
Die Behandlung, von der der Oberarzt gesprochen hatte, musste Marian gleich am nächsten Tag über sich ergehen lassen. Athanasius war aus Reykjavík gekommen, er durfte dabei sein. Der Arzt war umgeben von Betäubungsspritzen, Röntgen- und Pneumothorax-Apparaten und erklärte ihnen in beruhigendem Tonfall Punkt für Punkt, wie er vorgehen wollte. Er sprach zunächst über einen Italiener, Forianini mit Namen, der die Pneumothorax-Technik entwickelt hatte. Sie bestand darin, die Lunge zum Kollabieren zu bringen. Zu diesem Zweck pumpte man Luft zwischen die Lunge und das Brustfell, durch den Druck der Luft faltete sich die Lunge zusammen. Auf diese Weise sollte die Ausbreitung von Tuberkelbakterien verhindert werden, die Stellen, an denen sich die Bakterien ansiedelten, wurden so geschlossen, sodass die Lunge mit der Zeit abheilen konnte.
»Weißt du, ob du jemals eine Rippenfellentzündung gehabt hast?«, fragte der Arzt, während er in den medizinischen Unterlagen blätterte.
»Ich glaube, nein«, antwortete Marian.
Der Arzt sah Athanasius fragend an, aber auch der gab ihm zu verstehen, dass er nichts davon wüsste.
»Darüber ist euch beiden also nichts bekannt?«
»Nein«, antwortete Athanasius.
»Wie … wie wird diese Luft eigentlich in mich hineingeblasen?« Marian hatte sich vor dem Eingriff gefürchtet und die ganze Nacht kaum schlafen können. Es konnte nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die Krankheit sich verschlimmert hatte, Unwohlsein und Müdigkeit, Atemnot und Husten und Schweißausbrüche hatten zugenommen.
»Das wird mit dieser Nadel hier gemacht, die ist von innen hohl«, sagte der Arzt. Er sah von seinen Papieren auf, nahm eine lange Nadel zur Hand und zeigte sie Marian. »Mit der steche ich hier zwischen deine Rippen«, erklärte er und drückte auf Marians Brustkorb. »Damit kann ich Luft in dich hineinpumpen. Es tut ein ganz klein wenig weh, wie ich dir schon gestern gesagt habe, aber das musst du aushalten. Ich werde dich auf jeden Fall betäuben, aber trotzdem wirst du wohl etwas spüren. Das muss im Abstand von einigen Wochen mehrmals wiederholt werden, denn wenn die Luft aus dem Brustkasten entweicht, kann sich die Lunge wieder ausdehnen. Für uns ist es wichtig, dass sie ihre Ruhe bekommt. Die
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