Duell: Island Krimi (German Edition)
Filmvorführer im Foyer standen und den beiden hinterherschauten. Als keine Gefahr mehr bestand, dass jemand sie hören konnte und die Türen des Kinos sich wieder geschlossen hatten, beugte sich der Filmvorführer zu Kiddý hinüber und flüsterte: »Hast du schon mal so was erlebt, dass du dir nicht sicher warst, ob dein Gegenüber ein Mann oder eine Frau ist?«
»Komisch«, entgegnete Kiddý. »Ich habe gerade genau dasselbe gedacht.«
Ragnars Familie lebte in einem Wohnblock in Breiðholt, dem jüngsten Neubauviertel von Reykjavík, das sich vom Stadtkern in südöstlicher Richtung ausdehnte. Dort wurde immer noch gebaut. Marian und Albert gingen an Betonmischmaschinen vorbei und mussten über Bauholz und große Pfützen steigen, um zum Eingang des Hauses zu gelangen. Auf den Hügeln ringsum, die im Volksmund nur ›Golan-Höhen‹ genannt wurden, entstanden Wohnblocks mit bis zu zehn Stockwerken entlang der Straßen, gewaltige Bauwerke für isländische Verhältnisse. Weiter unten an den Hügeln wurden niedrigere Reihenhäuser und Einfamilienhäuser gebaut. Die Wohnblocks waren staatlich subventioniert und für Niedrigverdiener vorgesehen. Denn sie hatten seit der großen Krise und den Jahren nach dem Krieg, als sie auf der Suche nach Arbeit in Scharen vom Land in die Stadt gezogen waren, immer nur sehr beengt gelebt und ihr Leben in Kellerlöchern, engen Dachstuben und undichten Baracken gefristet. Jetzt freuten sie sich auf bessere Zeiten in modernen Zwei- oder Dreizimmerwohnungen mit gekacheltem Bad, geräumigem Wohnzimmer und einer Küche mit allen möglichen modernen Annehmlichkeiten.
Im Treppenhaus des Blocks, in dem Ragnar gelebt hatte, wurden gerade die Wände verputzt und für den Anstrich vorbereitet. Es gab zwar noch keine Klingelanlage, aber die Briefkästen hingen bereits an der Wand. Auf einem der Briefkästen entdeckte Marian Briem den Namen von Ragnars Familie – Eltern und drei Kinder. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock links.
»Er hatte zwei Schwestern«, sagte Marian.
Die Tür zum Treppenhaus stand offen. Auf dem Weg nach oben begegneten sie einer schwer bewaffneten Truppe von Kindern, die sich aus Abfallholz Schwerter und Schilde gebastelt hatten. Die kleinen Wikinger rannten lärmend die Treppe hinunter und nach draußen, ohne auf die beiden Kriminalpolizisten zu achten.
Albert wollte anklopfen, aber Marian hielt ihn zurück.
»Geben wir ihnen noch eine Minute.«
Albert wartete. Die Zeit verging. Marian murmelte ein mittelalterliches Gebet vor sich hin:
Oh Schöpfer der Welten
lass doch nur gelten
was dem Dichter gefiel
dein Mitgefühl.
Albert stand vor der Tür und wartete auf weitere Anweisungen.
»Erzähl ihnen nur die Fakten«, sagte Marian und gab ihm mit einer Handbewegung das Zeichen zum Klopfen. Als die Tür sich öffnete, blickte ein etwa zehn Jahre altes Mädchen die unerwarteten Gäste fragend an. Aus der Wohnung stieg ihnen ein Potpourri von Gerüchen in die Nase, Wasch- und Reinigungsmittel, halb gedörrter Fisch mit zerlassenem Hammelfett, der Abwasch. Und Zigarettenqualm.
»Ist dein Vater zu Hause, meine Kleine?«, fragte Albert.
Das Mädchen machte kehrt, um den Vater zu holen, der sich nach dem Abendessen mit einem Buch aufs Sofa gelegt hatte. Er kam mit zerzaustem Haar zur Tür, ein untersetzter Mann im karierten Arbeitshemd mit Hosenträgern. Im selben Augenblick kam seine Frau aus der Küche, gefolgt von einem anderen Mädchen im Konfirmationsalter.
Albert ergriff das Wort.
»Entschuldigt bitte die Störung …«
Weiter kam er nicht.
»Ach, das ist schon in Ordnung«, sagte der Mann. »Kommt doch rein, ihr müsst nicht vor der Tür stehen. Weshalb seid ihr gekommen, hat es etwas mit dem Haus zu tun?«
Albert ging ins Wohnzimmer, und Marian folgte ihm. Albert hatte Ragnars Personalausweis aus der Tasche gezogen.
»Es geht um euren Sohn«, sagte er. »Ragnar Einarsson.«
»Was ist mit Ragnar?«, fragte die Frau. Sie war klein und schlank, und ihre Miene war sehr viel besorgter als die ihres Mannes, der über dem Buch eingeschlafen und immer noch nicht richtig wach war.
»Ragnar Einarsson, siebzehn Jahre?«
»Ja.«
»Ist er das?«, fragte Albert und hielt ihnen den blutverschmierten Personalausweis mit dem Schwarzweißfoto hin.
»Ja, das ist Raggi«, sagte der Mann. »Was ist passiert? Was ist das da an seinem Ausweis?«
»Ich fürchte …«, begann Albert.
»Vielleicht sollten die Mädchen lieber in ihr Zimmer gehen«, bemerkte
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