Dünengrab
Frontlinse des Nachtsichtgeräts. Dann legte er das Gerät zurück in den Plastikkoffer und verschloss ihn. Unten war Fred damit beschäftigt, den BMW zu verkabeln. Der Geruch nach geräuchertem Fisch wehte herüber.
Femke war auf ein Szenario gestoßen, das ihm erst mit einiger Nachwirkung ein Kribbeln im Bauch verursacht hatte. Der Ort in den Dünen hatte eine Geschichte, die durchaus eine Relevanz für den Täter haben mochte. Vielleicht war er ein Beobachter gewesen, vielleicht direkt betroffen – vielleicht auch jemand, der ein Kind auf ähnliche Art und Weise verloren hatte.
Ein Kind.
Tjark drückte die Zigarette aus. Dieser Junge auf dem Foto, der Bruder des ertrunkenen Mädchens, würde diesen Ort sicher bis in alle Ewigkeit meiden wollen – und das Meer ebenfalls. Tjark wusste nur zu gut, wie sich ein Schock auswirken konnte. Allerdings war der Killer ein Psychopath, wenngleich ein Opfer der Umstände. Hatte nicht erst kürzlich noch sein Psychologe Dr. Schröder gesagt, dass …
Ein Kind.
Tjark stutzte. Vielleicht war nicht jeder ein Opfer der Umstände. Vielleicht hatte Schröder unrecht. Vielleicht war nicht alles, das wie ein Unfall aussah, tatsächlich einer gewesen. Er griff zum Handy, suchte Schröders Nummer aus dem Kontaktspeicher heraus und wählte. Dr. Kevin Schröder meldete sich mit einem »Ja?«.
»Tjark Wolf.«
»Ach, Herr Wolf …« Schröder klang gleichzeitig überrascht und interessiert. »Einen Augenblick, bitte.«
Tjark hörte, dass Schröder die Sprechmuschel abdeckte und zu irgendwem etwas sagte. Dann schien er eine Treppe hinaufzugehen und sich hinzusetzen – jedenfalls bildete sich das Tjark anhand der Hintergrundgeräusche und Schröders Atmung ein, der erklärte: »Entschuldigung, wir grillen heute mit der Familie – tja, und der Mann im Haus ist nun mal für das Feuer und die Fleischbeschaffung zuständig, das hat sich seit den Zeiten der Jäger und Sammler nur unwesentlich verändert.« Schröder lachte. Tjark versuchte, sich Schröder mit Frau und Kindern im Garten vorzustellen. Es gelang ihm nicht.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Schröder.
»Erinnern Sie sich an unser Gespräch über das Böse?«
»Ja. Das Thema fasziniert Sie, nicht?«
»Es hilft, das zu kennen, was man bekämpft.«
»Es wird immer leichter, wenn das Unbekannte ein Gesicht bekommt. Es ist nicht mehr so beängstigend.«
»Was für das Böse selten zutrifft.«
Schröder kicherte. »Das ist gewiss richtig. Andererseits ist das Böse auch ein Indikator für das Ausmaß des Guten. Es wurde nach meiner Meinung nie treffender definiert als in dem Reim von Wilhelm Busch: Das Böse, dieser Satz steht fest, ist stets das Gute, was man lässt.«
»Sie haben gesagt, dass niemand böse geboren wird. Gibt es Ausnahmen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ein Kind, das Böses tut, weil es ihm Spaß macht.«
»Sie meinen, ob es einen Code des Bösen gibt?«
»Ja.«
Schröder schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Einige Studien kommen durchaus zu dem Resultat, dass es biologische oder genetische Ursachen in der Entwicklung von Schwerststraftätern geben könnte. Allerdings treffen solche Ergebnisse nicht pauschal zu. Es gibt meteorologische Voraussetzungen für Tornados, aber nicht immer entstehen welche, und nicht jeder Tornado fordert Opfer. Es würde auch Verurteilungen sehr erschweren, wenn man Täter als Opfer ihrer Neuronen darstellen und sagen müsste: Er konnte halt nicht anders. Ein solcher Gencode würde zudem bedeuten, dass man manche Menschen als potenzielle Mörder stigmatisieren und vorsorglich beobachten könnte, obwohl sie gar nichts getan haben und auch nicht tun werden – im Grunde also eine Form der Euthanasie.«
»Wie wäre jemand, der böse geboren wird?«
»Er könnte mit einer Form der Psychopathie zur Welt kommen, die wir malignen Narzissmus nennen – negativen Narzissmus, was bedeutet, sich an der Erniedrigung und Entwürdigung anderer zu erhöhen. Es handelt sich um eine Kombination aus Persönlichkeitsstörung, sadistischer Aggression und Paranoia. Ein gefährlicher Cocktail – vor allem, wenn das aggressive Verhalten mit Lustgewinn gekoppelt ist. Zudem fehlt einem solchen Menschen jegliche Möglichkeit zur Empathie. Er sieht nur sich. Dazu kommt, dass solche Psychopathen lernen, sich gut zu verstecken, und gemeinhin als sehr charismatische Menschen gelten können.«
»Er würde also nicht unbedingt auffallen?«
»Nein, nicht unbedingt.«
Tjark bedankte sich und
Weitere Kostenlose Bücher