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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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voller Regale, in denen die alten Zeitungen in große Folianten eingebunden und nach Erscheinungsjahrgängen sortiert waren. Es roch muffig nach Keller und altem Papier. Femke suchte das entsprechende Jahr heraus, wuchtete das Buch auf einen Schreibtisch, nahm dann die Akte zur Hand, die sie aus den Eingeweiden der Polizeiinspektion herausgesucht hatte, und schlug sie auf. Der Bericht von damals fasste in gutem alten Bürokratiedeutsch zusammen, was im Juni 1975 geschehen war. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich die Ereignisse bildhaft vorzustellen.
    Die vierköpfige Familie Bartels aus Menden im Sauerland hatte ihren Sommerurlaub in Werlesiel verbracht und ein Ferienhaus gemietet – mit dabei: die Kinder Jasmin, acht Jahre alt, und der sechsjährige Michael. Man hatte bereits einige Wattwanderungen unternommen, fuhr regelmäßig an die Küste und fühlte sich daher sicher. Also ließ man die Kinder im Watt eigenständig herummatschen oder Drachen steigen. Die große Schwester schien alt und vernünftig genug, um auf den Bruder achtzugeben. An einem frühen Nachmittag waren die Kinder wieder spielen, und wegen des etwas diesigen Himmels machte sich niemand Sorgen. Die Eltern nutzten die freie Zeit zu einem Schäferstündchen, aus dem dann wenigstens zwei wurden, weil beide nach dem Sex eingeschlafen waren. Schließlich erwachten sie und stellten entsetzt fest, dass die Kinder noch nicht wieder aufgekreuzt waren und die Sichtweite draußen nur noch wenige Meter betrug, weil Seenebel aufgezogen war. Was dann geschehen war, hatte sie gestern Abend von Eike Brarens gehört. Die Berichte in den alten Akten spiegelten das Geschehen.
    Femke blätterte in dem Folianten und fand schließlich einige Zeitungsberichte von damals. Sie las sie durch. Sie fand keine neuen Fakten. Aber es schnürte ihr das Herz zusammen, als sie sich das Leid der Eltern vorstellte, die sich selbst die Verantwortung für das Unglück geben mussten – und in der Tat hatten sie dazu allen Anlass. Man durfte Kinder in diesem Alter auf keinen Fall alleine am Meer spielen lassen, erst recht nicht an der Nordsee. Femke fand ein Foto, das die Zeitung einige Zeit nach dem Unglückstag aufgenommen hatte. Es zeigte die Eltern mit Blumen in der Hand und ihren Sohn Michael dort, wo Jasmins Leiche angespült worden war. Es handelte sich um dieselbe Stelle, wo die Polizei vor kurzem die Opfer eines Serienmörders gefunden hatte. Das Bild war aus einiger Entfernung gemacht worden und war – wie damals üblich im Zeitungsdruck – sehr grob gerastert. Man konnte die Bildpunkte bei genauem Hinsehen beinahe zählen.
    Die Eltern standen in ihrer Trauer dicht beieinander und hielten sich umfangen. Der kleine Junge stand daneben und wirkte in Femkes Augen wie ein Fremdkörper – unbeteiligt und vor allem allein gelassen, nicht in die Trauer der Eltern eingebunden. Dabei hatte er ebenfalls ein traumatisches Erlebnis hinter sich. Er hatte seine Schwester verloren und ihr Ertrinken wahrscheinlich sogar mit ansehen müssen. Klar war das zwar nicht – laut Polizeiakte hatte der Junge bei der Zeugenvernehmung kaum ein Wort gesprochen. Klar war aber, dass er selbst hätte ums Leben kommen können, und klar war auch, dass er im Nebel Todesangst ausgestanden haben musste und völlig allein aufgefunden worden war.
    Femke näherte sich mit dem Gesicht an das Foto an, bis ihre Nasenspitze das schon vergilbende Papier berührte. Der Junge trug einen Anzug, seine Haare wirkten blond und lockig. Die Augen sahen aus wie zwei schwarze Punkte. Femke merkte sich den Namen des Fotografen, Peter Reents, nahm ihr Handy aus der Tasche und machte eine Aufnahme von dem Zeitungsbild. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, es qualitativ zu verbessern.
    Dann schlug sie den Folianten zu, klemmte sich die Akten unter den Arm, bedankte sich bei Janine Ruwe, die gerade ihr Gespräch mit Tjark beendet hatte, und fragte sie, ob Fotonegative oder Abzüge auch archiviert würden. Die Redakteurin erklärte lächelnd, dass das damals andere Zeiten gewesen seien als die heutigen digitalen. Nach ihrem Wissen gebe es kein zentrales analoges Bildarchiv beim Wittmunder Echo. Abzüge habe man damals in der Druckvorstufe mit Reprokameras abgelichtet und für den Druck gerastert. Die Abzüge seien in Umschläge gekommen, und sie habe keinen blassen Schimmer, wo diese Umschläge nach dem Umzug des Echos 2003 abgeblieben seien. Abgesehen davon habe früher jeder Mitarbeiter oder Redakteur seine Negative

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