Dünengrab
Puzzle fertig wird.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass du dich nicht in die Sache reinsteigern solltest.«
»Tue ich das deiner Meinung nach?«
»Du fängst gerade an. Du machst es zu einer persönlichen Angelegenheit.«
»Steht mir das auf der Stirn geschrieben?«
»Gewissermaßen. Ich kenne die Symptome. Ich bin selbst große Klasse darin.«
Femke musste lächeln.
»Ich muss ein paar Dinge regeln«, sagte Tjark dann.
»Mit Ruven?«
»Auch. Ich bin heute Abend ein wenig mit ihm unterwegs.«
Femke hatte eine Ahnung, dass Tjark irgendein krummes Ding vorhatte und dass die Brauerei dabei eine Rolle spielen mochte. Sie wollte gerade nachhaken, als Tjark sagte: »Je weniger du weißt, desto besser, glaub mir.«
»Verstehe.«
»Check die Personalien von diesem Michael Bartels, wenn du die Zeit findest, und halte mich auf dem Laufenden. Essenziell bleibt aber die Frage: Wo ist Vikki? Wo ist der Rückzugsort, an dem der Täter die Opfer festhält?«
»Natürlich.«
»Und: Was ist die Konstante in den Fällen? Was bestimmt den jeweiligen Tag, an dem der Mörder zuschlägt und an dem er sich vielleicht auch Vikki geholt haben könnte?«
»Was glaubst du?«
»Gelegenheit.«
59
In einem Schockzustand sieht man manchmal alles wie durch die Augen eines anderen. Vikki erinnerte sich noch gut, wie sie einmal mit dem Auto nachts beinahe jemanden angefahren hatte – einen ortsbekannten Herumtreiber, der Müll aus Straßengräben sammelte und hortete. Der Alte war ohne Zweifel psychisch krank. Mit beiden Füßen war Vikki auf die Bremse gestiegen, hatte die Tür aufgerissen und war nach draußen gesprungen. Aber die Straße war wieder leer und der Alte fort. Nur sehr leise hatte Vikki in der Dunkelheit eine rasselnde Stimme gehört, die »La Paloma« sang: »Auf, Matrosen, ohe, einmal muss es vorbei sein, einmal holt uns die See.« Das Lied hatte sich in ihr festgesetzt. Wie ein Wurm kroch es manchmal durch ihre Gehirnwindungen, wenn sie still auf dem Bett unter irgendwelchen Freiern lag. Es war der Soundtrack dazu, wenn sich die eine Vikki zurückzog und Platz für die andere machte.
So wie jetzt. Vikki summte die Melodie und sang leise: »Nach vorn geht mein Blick, zurück darf kein Seemann schaun …« Sie saß auf der enttäuschenden Panzerfaustkiste, hielt die Knie mit den Armen umfangen und wiegte sich hin und her. Wenn sie hier rauskam, dachte Vikki, würde sie alles ändern. Restlos. Es wäre Schluss mit dem Anschaffen, Schluss mit allem. Sie würde sich einen echten Job besorgen, eine Ausbildung beginnen oder ihr Abi nachmachen, damit sie ein Studium beginnen könnte. Und sie würde mit ihrer Vergangenheit aufräumen: Allen voran wäre Onkel Heiner an der Reihe. Sie würde tun, was seit Jahren überfällig war: den Scheißkerl anzeigen und bluten lassen. Denn letztlich war es seine Schuld, dass sie auf die schiefe Bahn geraten war – und damit war es auch seine Schuld, dass sie in diesem Loch saß.
Heiß brandete die Wut in Vikki. Gut, dachte sie. Zorn und Liebe waren die elementaren Gefühle, dazwischen lag das Niemandsland der Gleichgültigkeit, in dem sie jahrelang gehaust hatte. Jetzt war die Zeit des Hasses gekommen, und je mehr Kohlen sie aufs Feuer warf, desto heftiger würde er in ihr lodern und ihr Kraft spenden für das, was vor ihr lag. Doch von einem Moment auf den nächsten schien die Flamme zu erlöschen.
Klopf, klopf, kilopf.
Schritte auf Holz. Das war das Zeichen. Der Mann kam.
Zeit zu überleben, dachte Vikki und wünschte sich für einen Moment, sie könnte sich in der Ecke des Raumes verstecken, die Augen mit den Händen zuhalten und sich so klein machen, dass der Mann sie nicht bemerken würde. Aber natürlich wäre das zwecklos. Sie löste sich aus der Starre, vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass das Chemieklo in Reichweite stand.
Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt.
Vikki stellte sich auf die Holzkiste und fasste nach den Rohren unter der Decke.
Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht.
Vikki zog sich hoch, stemmte die Fußballen gegen den Rand des Wasserfasses und winkelte die Beine so eng wie möglich an.
Das Schloss sprang auf.
»Na komm schon«, zischte Vikki und fühlte sich wie eine Napalmbombe kurz vor der Explosion.
Dann öffnete sich die Tür.
Der Mann kam herein.
60
Verdammt, da war etwas dran, dachte Tjark. Er sog an der Zigarette, bis der Filter heiß war, und wischte mit einem antistatischen Tuch über die
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