Dünengrab
beendete das Gespräch. Er steckte sich an der verglimmenden Zigarette eine neue an.
Ein Kind.
An der Idee mochte etwas dran sein. Das Kind von damals wäre heute ein Erwachsener, dessen Spuren immer wieder nach Werlesiel führen könnten – dorthin, wo der Mörder vor fast vierzig Jahren vielleicht geboren worden war. Bei dem Gedanken daran wuchs in Tjark die Befürchtung, etwas ganz und gar Wesentliches zu übersehen, obwohl es greifbar nah schien. Wie dem auch sei – Mommsens Partys spielten ebenfalls eine Rolle. Tjark war davon überzeugt, dass der Mörder dort wie auch immer die Gelegenheiten beim Schopf ergriffen hatte, die sich ihm in unregelmäßigen Abständen boten. Aber dazu musste Tjark zunächst die Annahme verifizieren, dass die Opfer überhaupt dort gewesen waren. Und genau das würde er tun. Jetzt gleich.
61
»Michael Bartels«, flüsterte Femke leise und blätterte die Fallakten vom Sommer 1975 ein weiteres Mal durch. Warmes Abendlicht schien durch ihr Bürofenster und warf lange Schatten. Draußen zappelte eine Fahne. Der Wind, der von der See her wehte, war aufgefrischt. Bald würde er mit der Flut noch stärker werden.
Warum ließ sie der Gedanke nicht los, dass sie den Jungen schon einmal gesehen hatte? Faktisch war es unmöglich: Als das Unglück geschehen war, war Femke noch gar nicht geboren. Sie hatte einmal gelesen, dass Kindheitserinnerungen bis zu einem Alter von etwa acht Jahren zurückreichen. Und wenn ihr Bartels, Jahre später, in Werlesiel über den Weg gelaufen wäre, dann wäre er ein Jugendlicher gewesen, der kaum noch etwas mit dem kleinen Jungen auf dem Zeitungsfoto gemein gehabt hätte. Femke fragte sich, ob sie Reents anrufen und Druck machen sollte – beschloss dann aber, es zu lassen: Reents schien der Typ Mann zu sein, dessen Tempo sich verlangsamen würde, je mehr man ihn anstachelte und nervte. Friesen brauchten ihre Zeit, und die musste man ihnen geben.
Bemerkenswert war, dass Bartels einem Schatten glich, der irgendwann zu einem Nichts verblasst war. Er hatte keine Vorstrafen, war in keiner Polizeidatenbank registriert, und es gab weder Einträge über Straftaten im Bundeszentralregister noch in der Flensburger Verkehrssünderdatenbank. Es war nicht einmal ein Auto auf seinen Namen zugelassen, und weiter fand Femke bei keinem Einwohnermeldeamt Daten über ihn – sowie in der Kürze der Zeit nur so viel über seine Verwandtschaft, dass die Mutter mit fünfundsechzig Jahren an Krebs gestorben war und sich der Vater vor mehr als zehn Jahren das Leben genommen hatte. Der Sohn hatte mit sechzehn Jahren seinen Realschulabschluss in Menden gemacht – und kurz darauf schien er von der Bildfläche verschwunden zu sein. Früher war das leichter als heute. Damals hinterließ man keine Spuren im Internet.
Dann las sie die Aussage des Jungen durch, die jedoch nichts Neues zutage brachte. Er war mit seiner Schwester zum Spielen im Watt gewesen. Nebel war aufgezogen. Die Schwester war in einen Priel gestürzt und verschwunden. Wie genau, das vermochte der Junge nicht zu beschreiben.
Bei dem Priel handelte es sich um den Norderpriel – einer der wenigen, der einigermaßen stabil war, zum Teil dauerhaft Wasser führte und seinen Verlauf nicht durch Sturmfluten oder die Tiden in den letzten Jahren wesentlich verändert hatte. Er befand sich unweit der Hafenrinne und war sorgfältig mit Warnhinweisen ausgeschildert. Soweit Femke wusste, war er sogar mit Bojen markiert. Vermutlich war das 1975 noch anders gewesen. Wahrscheinlich hatte auch niemand an die üblichen Verhaltensweisen gedacht: Niemals bei auflaufendem Wasser ins Watt aufbrechen, schon beim Losgehen überlegen, wann man wieder umkehren muss, und sofort dann umkehren, wenn bei Niedrigwasser noch ein Priel zwischen einem und dem Strand liegt, der einem den Weg abschneiden könnte – und genau das war wahrscheinlich am Norderpriel geschehen, mutmaßte Femke.
Sie legte die Akten zur Seite und sah aus dem Fenster. Dann stand sie auf, um es zu schließen. Trotz des schönen Wetters schien es empfindlich abgekühlt zu sein. Das Licht wirkte diffus. Zog Nebel auf? Femke neigte den Kopf.
Bei dem Unglück 1975 hatte Nebel geherrscht. Als Vikki verschwand, ebenfalls. War das Zufall? Sie schob die alte Akte zur Seite und schlug die auf, die Tjark auf ihrem Schreibtisch hinterlassen hatte. Sie blätterte die Papiere durch. Dann fand sie die Liste von Ruven. Zunächst fiel ihr auf, dass für heute bei Mommsen eine größere
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