Dünengrab
Bartstoppeln im faltigen Gesicht. Er trug eine Fleecejacke, eine ausgebeulte Jeans und dazu Gummistiefel.
»Eike, hast du mich erschreckt.«
Eike Brarens lachte heiser. »Wolltest du mal nach Fokko kieken?«
»Ist wohl nicht to Hus, Eike.« Femke kannte Eike schon ihr Leben lang. Niemand wusste genau, wie alt er war, aber gewiss schon über achtzig. Der alte Mann war Wattführer, ein Werlesieler Original, und kannte die See und die Marschen wie seine Westentasche. Die viele frische Luft und die Bewegung mussten ihn fit halten, denn Eike führte trotz seines Alters immer noch Touristen durch das Watt. »Und wo kommst du auf einmal längs, Eike?«
»Ick kwäm van Auerk, un ick wull no Nördn. Söben dag up Water dreben, nix too freeten kregen, un doch am Lebn blebn.«
Femke lachte. Ich kam von Aurich und wollte in die Stadt Norden. Sieben Tage auf dem Wasser getrieben, nichts zu fressen gekriegt, aber doch am Leben geblieben. Das hieß so viel wie alles oder nichts und vor allem, dass es keine Rolle spielte und sie nicht so dumm fragen sollte.
»Du solltest lieber zu Hause sitzen, statt abends noch zu arbeiten, Femke.« Er deutete auf ihren Polizeiwagen. »Fokko kann schon auf sich selbst aufpassen.«
»Da bin ich mir nicht sicher.« Sie deutete auf das etwas zurückliegende Haus.
Eike sah hin, gab einen genervten Laut von sich, nahm die Mütze ab und kratzte sich am Kopf. »Schnacks vun Schiet, is nich wiet«, sagte er. Sprichst du über Scheiße, ist sie nicht weit. Eike setzte die Mütze wieder auf. »Kommt ihr denn voran mit dieser schrecklichen Sache?«
»Kommen wir, Eike. Stück für Stück.«
»Tja«, er sah zum Küstenstreifen, »Nebel, stiller Nebel über Meer und Land. Totenstill die Watten, totenstill der Strand«, sagte er leise. »Christian Morgenstern.«
»Das ist sehr schön.«
Eike deutete auf den dichten Bewuchs. »Im Nebel geschehen seltsame Dinge. Du weißt, was das für eine Stelle ist, wo die Toten gefunden worden sind?«
Femke verschränkte die Arme und runzelte die Stirn. »Es war eine Art Lichtung im Uferbewuchs, und …«
Eike winkte unwirsch ab. »Das meine ich doch nicht. Ich meine, was dort mal geschehen ist.«
»Geschehen?«
»Lange her«, sagte Eike. »Kennst du die Geschichte von Maleen und ihrer Düne?«
Femke kannte die Geschichte nicht und hatte auch keine Lust, sich jetzt noch eine von Eikes Schrullen anzuhören. Doch dann begriff sie, dass er ihr etwas mitteilen wollte. Der Kloß in ihrem Bauch begann zu glühen. Sie schwieg und lauschte, während sich die Dunkelheit langsam über Werlesiel senkte.
»Maleen«, erzählte Eike, »war eine junge Deern, und ihr Verlobter ein Seemann. Wenn er draußen war, stand sie jeden Tag auf der Düne und wartete auf seine Rückkehr. Sie entzündete jeden Abend ein Licht, das ihm den Weg zu ihr weisen sollte. Eines Abends brannte das Licht nicht mehr.«
Femke fröstelte. Der Wind wurde kälter.
»Die Leute liefen zur Düne und fanden Maleen tot auf. Kurz darauf wurde ein toter Seemann angespült. Er trug den gleichen Ring wie die arme Maleen. Der Blanke Hans hatte sich ihren Geliebten geholt, als ihr Herz nicht mehr schlug.«
Femke blickte unruhig in Richtung Meer. Die Sanddornbüsche raschelten. »Das ist hier geschehen?«
»Nicht hier«, sagte Eike. »Aber ich musste daran denken. Daran – und an den Nebel. Und daran, dass hier einmal etwas anderes geschah.«
»Und was?«
»Es war vor fast vierzig Jahren im Sommer 1975/76 so ungefähr. Da waren Kinder im Watt spielen …«
»Eike, das ist doch die alte Gruselgeschichte mit dem Mädchen, das …«
Er hob die Hand und sah Femke ernst an. »Das ist keine Gruselgeschichte. Es waren ein Junge und ein Mädchen. Sie machten hier mit ihren Eltern Urlaub. Der Nebel überraschte die Kinder – und dann kam die Flut. Das Mädchen stürzte in einen Priel und ertrank, den Jungen konnte man retten.«
Wie so oft hatten Schauergeschichten also einen wahren Kern, dachte Femke. »War das hier vor der Küste in Werlesiel?«
»Nicht ganz«, erklärte Fokko. »Hier war was anderes. Man hatte lange gedacht, dass die Flut das Mädchen mit sich gerissen hatte. Aber du kennst das Sprichwort, dass die See irgendwann alles wiedergibt, was sie sich genommen hat.«
Femke nickte.
»Wochen später wurde eine Leiche angespült. Man erzählte sich, dass es die ertrunkene Schwester gewesen sein soll. Gleich dahinten hatte man sie gefunden. Da, wo ihr die Toten entdeckt habt. Daran musste ich denken.
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