Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
damals wissen können, wohin sich alles entwickelte? Er war 1940 eingezogen worden. Zuerst nach Frankreich, wo der Krieg noch wie ein Abenteuer war. Aber dann war es an die Front gegangen, und mit dem ersten Toten hatte sich alles geändert.
Am Ende hatte er mehr Tote gesehen, als ein Mensch zählen konnte. Alle Arten des Sterbens waren ihm vertraut gewesen. Er hatte gestandene Männer jämmerlich verrecken sehen, Männer, die vor Schmerzen brüllten, markerschütternd, und andere, die still vor sich hin weinten, einsam und vergessen im Lärm des Geschützfeuers. Männer mit zerfetzten Körpern, voller Dreck und Blut und Eiter, die immer noch am letzten kleinen Rest ihres Lebens hingen, selbst dort in der Hölle. Und andere, die eben noch da gewesen waren, und dann waren sie fort, als hätte es sie nie gegeben, die den Tod widerstandslos empfangen hatten. Und schließlich die, die im Sterben nach ihren Müttern flehten, zusammengerollt wie kleine Kinder in der Dunkelheit und mit hellen und verzweifelten Stimmen. Stimmen, die er niemals bei einem Erwachsenen vermutet hätte. Die waren es gewesen, die Carl bis in seine Träume verfolgten. Auch heute noch. Er hatte das alles gesehen. Es war ein Fest für den Tod gewesen.
Er wollte Rosa das Foto zeigen, sie fragen, ob sie ihn darauf überhaupt erkannte. Doch er konnte nicht. Er hatte seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. Also blätterte er wortlos weiter. Er ließ den Jungen, der er mal gewesen war, hinter sich. Es war besser so.
Auf der nächsten Seite war das Anwesen der Schulte-Steins zu sehen. Der Garten im Sommer. Uniformierte Männer, die gut gelaunt herumstanden und in die Kamera lachten. Mittendrin der alte Schulte-Stein, in vollem Ornat.
Er sah freundlich aus. Ein netter Mann. Carl erinnerte sich, wie er als Kind bei den Schulte-Steins gewesen war. Der Senior hatte immer einen Spaß auf den Lippen gehabt. Er war gern dort gewesen. Viele der Nazis im Dorf waren scheinbar nette Männer gewesen. Ganz im Gegenteil zum alten Wüllenhues, diesem mürrischen und wortkargen Mann. So hatte es zumindest als Kind auf ihn gewirkt.
Er blätterte weiter. Noch mehr Bilder aus dem Garten der Schulte-Steins. In der Mitte der Seite prangte eine Lücke. An der Stelle, wo das Foto gewesen war, schimmerte das Papier etwas heller.
»Hier fehlt eines«, sagte er.
Rosa betrachtete die Seite. »Tatsächlich.«
»Fehlte das schon immer?«
»Nein. Das Album war vollständig. Da gab es keine Lücken. Ich bin mir sicher.«
»Wann hast du denn das letzte Mal hineingesehen?«
»Das ist schon lange her. Aber ich habe es kurz durchgeblättert, bevor Alfons gekommen ist. Ich wollte sichergehen, dass keine anderen Fotos darin liegen.«
»Und da war es noch vollständig?«
Sie wirkte unsicher. »Ich glaube schon.«
Carl war jetzt hellwach. Dies war kein Zufall, davon war er überzeugt.
»Rosa. Welches Foto fehlt hier?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Du hast dir die Bilder doch als Kind immer wieder angesehen, nicht wahr?«
»Schon. Aber wie lange ist das her?«
»Trotzdem. Denk nach. Welches Bild hat an dieser Stelle geklebt?«
Sie zog das Album heran und betrachtete die Seite. Es wurde still im Zimmer, nur der Pendelschlag der Standuhr war zu hören. Schließlich seufzte sie schwer.
»Ich weiß nicht mehr, Carl. Auf dieser Seite waren nur Fotos vom Gartenfest. Wahrscheinlich war der alte Schulte-Stein auf dem Bild, wie auf den meisten. Doch wer noch darauf war, das kann ich dir nicht sagen. Dafür ist das einfach zu lange her. Die meisten Männer kannte ich nicht einmal. Sie waren ja alle im Krieg, als wir hier ankamen. Oder sie waren schon tot.«
Carl betrachtete nachdenklich die Stelle, wo das Bild fehlte.
»Denkst du, Alfons hat das Foto herausgenommen?«, fragte sie. »Denkst du, das war der Grund, weshalb er die alten Fotos sehen wollte?«
»Ja, das denke ich.«
Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Carl, und jetzt ist er ermordet worden. Denkst du, es gibt einen Zusammenhang? Glaubst du, dieses Foto hatte etwas damit zu tun?«
»Ich weiß es nicht, Rosa. Ich weiß es wirklich nicht.«
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie lange. Dann sagte er: »Um das zu wissen, müssen wir herausfinden, was auf diesem Foto war. Und warum es für Alfons so wichtig war, ein Bild aus dieser vergessenen Zeit heimlich verschwinden zu lassen.«
Es war schon seit einer Weile ruhig im Wohnzimmer. Schließlich wurde er neugierig. Er ließ die Zeitung sinken, stand mühsam
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