Duft der Unschuld - Tennington (German Edition)
und klopfte. Als Kylians Gesicht im Türspalt erschien und sein Blick meinen traf, wandelte sich sein genervter Ausdruck sofort in ein Lächeln.
„Oh, Yves, hallo. Was ist los?“ Er öffnete die Tür weiter und bedeutete mir, einzutreten.
Mein Fuß zuckte schon, doch ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich … können wir woanders reden?“
Ich sah ihn bittend an und er nickte.
„Ich muss mir Schuhe anziehen.“ Keine Frage, wieso ich nicht hereinkommen wollte. Das rechnete ich ihm hoch an. Und gleichzeitig fragte ich mich, wieso er meine doch recht ungewöhnliche Bitte so fraglos hinnehmen konnte.
Sacrebleu dieser junge Mann war echt viel zu freundlich! Aber genau darüber musste ich jetzt wohl ernsthaft mit ihm reden. Und bevor ich es verhindern konnte, wandte sich eine erst kürzlich aktivierte Gehirnregion seinen Gedanken zu. Na klar, ich musste sie so oder so lesen. Musste einfach mehr erfahren, am besten in Situationen, in denen man seine Gedanken definitiv nicht unter vollkommener Kontrolle halten konnte.
Nein, ich dachte dabei nicht an Sex. Auch wenn es unbestreitbar wohl kaum eine Tätigkeit gab, bei der man seine Gedanken weniger im Griff hatte …
Als er wieder in der weit geöffneten Tür erschien und das Licht löschte, bevor er sie hinter sich zuzog, stieg mir wieder sein Geruch in die Nase und ich wich möglichst unauffällig zurück.
In seinem Kopf spielten sich mehrere Gedankengänge ab. Einer davon betraf mich, er mochte mich und dachte darüber nach, wie sehr ich ihn anmachte. Das aber unterband er sofort mit der geistigen Erinnerung daran, dass ich schließlich einen festen Freund hatte und er sich zusammenreißen musste.
Na gut, auch das war nicht dazu geneigt, mir Zweifel an seinen Absichten oder seiner Ehrenhaftigkeit zu bescheren.
Er wollte mich, aber er wollte mich eben auch nicht. Wegen Etienne. Das beruhigte mich. Dann tauchte der zweite seiner Gedankengänge klarer in mein Bewusstsein. Er war neugierig auf das, was ich wollen könnte, und auch nervös, weil er keine Idee hatte.
Ich zog meinen überzähligen Sinn aus seinem Kopf zurück. Ich fand es nach wie vor nicht besonders fair, aber der Zweck heiligte in diesem Fall wohl doch die Mittel.
„Wohin willst du?“, fragte er und klang ein wenig unsicher. Seine ruhige Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Mal sehen, keine Ahnung, jedenfalls möchte ich gern mal ganz in Ruhe mit dir reden …“, gab ich zurück und ganz kurz dachte ich an das Geheimversteck. Dieser Gedanke erschreckte mich. Niemals würde ich diesen Raum mit jemand anderem als Etienne teilen!
Aber es gab noch andere Orte, an denen man seine Ruhe hatte. Zum Beispiel im obersten Stockwerk der Schulbibliothek. Dort gab es verschwiegene Ecken und um diese Uhrzeit – kurz nach dem Dinner – trieb sich dort niemand herum. Außerdem lag dort ein hinter einem Regal versteckter alter Dienstbotengang, der zu einem Dachboden im Westturm führte. Ich war mir nicht sicher, wie viele diesen Raum oder den Eingang dorthin kannten. Duncan und ich hatten ihn per Zufall gefunden, weil er sich einmal genervt an jenes Regal gelehnt hatte, da ich hatte lesen wollen und keine Lust auf eine DVD gehabt hatte. Ich setzte mich in Bewegung und er ging neben mir her.
„Wir müssen in die Bücherei.“
„Du klingst echt ernst, ich meine, hab ich was falsch gemacht, Yves?“, fragte er, während wir die Steinstufen zur Bibliothek erklommen. Als wir sie betraten, wandten wir uns nach links zu den hölzernen Wendeltreppen, die die drei Galerien mit dem Hauptraum verbanden.
„Nein, hast du nicht, keine Sorge. Ich … hör zu, ich weiß auch nicht, ich …“, stammelte ich und ärgerte mich darüber. Ich konnte ihm schlecht die Wahrheit sagen, konnte aber auch keine allzu konkreten Fragen stellen. Zumindest nicht, bevor wir einen Ort gefunden hatten, an dem außer uns niemand war. Hier in den Leseecken in der Nähe zum Hauptraum saßen noch einige Schüler an den Schreibtischen und lernten. Deutlich mehr, als ich erwartet hätte. Deshalb überlegte ich schon, ob wir überhaupt ungesehen zum Westturm kommen würden.
Ich atmete erleichtert auf, als vor dem Regal niemand in dem Lehnsessel saß, und lehnte mich ohne Seitenblick auf Kylian dagegen, bis es von allein weiter nach innen schwang.
Kylian holte scharf Luft und ich sah ihn an. „Burgen haben Geheimgänge. Meistens wohl aus den Zeiten, in denen die Dienerschaft nicht durch die Flure der Herrschaft tingeln
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