DuMaurier, Daphne - Plötzlich an jenem Abend
Augenblick länger zurückhalten.«
Die Sekretärin, der noch immer nicht recht wohl bei der Sache war, hatte das Gefühl, Robert Scriveners Abend verdorben zu haben. Daß sie selbst, ohne sich umzuziehen, zu spät ins Theater kam, machte ihr nichts aus.
»Ich tippe sie sofort und bringe sie zur Unterschrift«, sagte sie und erinnerte sich dann eines Briefes, der noch ungeöffnet auf seinem Pult lag. »Ich fürchte, ich habe vergessen, den Brief aus der Schweiz zu öffnen«, sagte sie. »Er liegt dort auf Ihrem Löschblatt. Er muß von einem Verehrer sein, der Sie nicht in Ruhe läßt. Ich glaube, ich kenne die Schrift.«
Scrivener warf einen Blick auf den Umschlag. »Sehr wahrscheinlich«, sagte er. »Er kann auf alle Fälle warten. Ich möchte Sie nicht im Traum zu spät ins Theater kommen lassen.«
Seine Sekretärin verließ das Zimmer, und sobald sie weg war, griff Scrivener nach dem Brief.
Wie nachlässig von ihm, dachte er, als er den Brief oben mit einem Öffner aufschlitzte, daß er den Stoß vor dem Diktieren nicht durchgesehen hatte. Er hätte wissen können, daß ein Brief da war und daß dieser Brief vor Judith nicht tabu war, obschon er an ihn persönlich adressiert war.
Vor ein paar Monaten hatte Robert Scrivener einen Leserbrief bekommen, und da wurden drei Gedichte gelobt, die in einer neuen Vierteljahresschrift erschienen waren.
Er steuerte literarischen Zeitschriften nicht oft Gedichte bei, und wenn er es tat, war es, wie er dachte, eine besondere Gunst, eine intime Eröffnung seiner persönlicheren Gefühle, die er nur zögernd preisgab, es aber aus Pflichtgefühl gegenüber Kunst und Literatur doch tat.
Robert Scrivener erhielt zwei Briefe von Menschen, die die Gedichte gelesen hatten. Einer war beleidigend; es stand darin, die Gedichte seien Schund. Diesen Brief zerriß Scrivener.
Der zweite Brief war von jemandem, der sagte, noch nie hätten Gedichte außer jenen von Rimbault und Rilke einen solch unmittelbaren und tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Seine Welt habe sich buchstäblich gewandelt.
Robert Scrivener beantwortete den Brief. Die Unterschrift war A. Limoges und die Adresse Zürich. Scrivener stellte sich einen Psychologieprofessor vor oder möglicherweise einen Medizinstudenten, auf alle Fälle jemanden von Sensibilität und Intelligenz.
Eine Woche später erhielt er eine Bestätigung seines Briefes; der Schreiber hatte nachts nicht geschlafen, nachdem er den Brief erhalten hatte; er war in Zürichs Straßen umhergewandert. Wie langweilig – so hieß es im Brief weiter – die Gesellschaft sei, in der der Schreibende lebe, wie einsam das Leben; es mangele an Schönheit, und er sagte, seit Robert Scrivener den Schlüssel zu einem bis dahin unerträumten Erleben gedreht habe, sei die dumpfe Routine des Lebens unerträglich geworden.
Scrivener beantwortete auch diesen Brief. Diesmal ließ er sich gehen und sprach zwei Seiten lang über das Leiden und wie sich der Existentialismus dazu stelle.
Dann herrschte eine Woche lang Schweigen, und dann kam eine bescheidene Zuschrift, die ein Gedicht von A. Limoges enthielt und um Kritik bat.
Scrivener las das Gedicht nachsichtig. Es war nicht schlecht. Er schrieb zurück, und dann – als zusätzliches Zuckerchen – legte er sein signiertes Foto bei.
Er war überrascht, postwendend das Foto eines Mädchens zu erhalten, das mit Annette Limoges signiert war, und er entnahm mit leichtem Schock dem beigelegten Brief, daß sein Korrespondent und Bewunderer kein Professor und kein Medizinstudent war, sondern in einem großen Geschäft in Zürich Nylonstrümpfe verkaufte.
Scriveners erste Reaktion war, das Foto zu zerreißen und es mit dem Brief ins Feuer zu werfen. Aber da starrten die Augen des Mädchens groß und feucht und vorwurfsvoll zu ihm auf. Sie war sicherlich reizend. Nichts Billiges an ihr, nichts Gewöhnliches. Die Tatsache, daß sie in einem Laden Strümpfe verkaufte, sprach nicht notwendigerweise gegen sie.
Scrivener schloß den Brief und das Foto in eine Lade seines Pultes, wo Judiths neugierige Hände nicht rumoren konnten, und erst, als nochmals ein Brief kam, worin sich das Mädchen entschuldigte, daß es so überheblich gewesen sei, sein Foto zu schicken, entschloß sich der berühmte Autor, den Empfang zu bestätigen.
Nach diesem Austausch der Bilder entspann sich eine wöchentliche Korrespondenz zwischen Robert Scrivener und Annette Limoges.
Die Korrespondenz wurde Scriveners Sekretärin Judith nie gezeigt, und
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