Dumm gelaufen: Roman (German Edition)
plötzlich Blutbäder in Einkaufszentren veranstalten. Vielleicht ist mein Clan heute nur um ein Haar verschont geblieben.
Trotzdem. Es ist auch keine Lösung, dass wir in diesem Bau hocken, während draußen die schönsten Jahreszeiten vorbeiziehen.
Rufus errät meine Gedanken.
»Überleg dir gut, ob du das riskieren willst«, sagt er. »Wenn sie dich beißt, dann ist es aus und vorbei. Bei deinem Körpergewicht wirkt ihr Gift so schnell, dass du wahrscheinlich nicht einmal Zeit hättest, uns noch ein letztes Mal zuzuwinken.«
»Wer sagt, dass ich euch zuwinken will, bevor ich den Löffel abgebe?«, frage ich launig.
Rufus zuckt mit den Schultern. »Musst du selbst wissen. Aber hier bist du sicher. Man kann auch gut ohne Sonne, frische Luft und Unterhaltungselektronik leben.«
»Okay. Öffnet das Tor«, sage ich prompt. Gerade hat Rufus mir die entscheidenden Argumente genannt, warum ich mit Rick reden muss. Bevor ich nämlich den Rest meines Lebens auf engstem Raum und ohne Fluchtmöglichkeit mit meiner Familie verbringe, lasse ich mich lieber von der gefährlichsten Giftschlange der Welt zu Tode beißen.
Als ich mich dem Nattern-Plattschwanz vorsichtig nähere, sehe ich, dass sein Oberkörper sanft hin und her wiegt. Sieht aus, als würde der Wind ihn schaukeln lassen, was aber nicht sein kann, weil es heute im Zoo völlig windstill ist. Rufus könnte mir jetzt sicher sagen, welche Gemütsregung dem Verhalten der Schlange zuzuordnen ist. Leider ist mein ebenso schlauer wie ängstlicher Bruder im Steinhaus geblieben.
Also hoffe ich, dass Rick mir nur seine Freude über mein Kommen signalisiert und nicht etwa seine Muskulatur für den tödlichen Biss lockert.
»Hi, Rick. Was geht ab?« Ich versuche, entspannt zu wirken.
»Hallo, Ray.« Der Sergeant klingt kränklich. »Tut mir leid, dass ich deine Leute verscheucht habe. Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du bei Gelegenheit mal ein paar Minuten Zeit für mich hast. Aber gleich das erste Erdmännchen, das ich angesprochen habe, ist kreischend davongelaufen. Und bevor ich den Irrtum aufklären konnte, ging hier alles drunter und drüber, und dein Clan ist in wilder Panik davongestürmt.«
»Schlangen und Adler sind unsere natürlichen Feinde«, erkläre ich. »Da kann man nichts machen. Das sind die Instinkte.«
Rick mustert mich. »Ich habe denen gesagt, dass ich nicht in feindlicher Absicht komme.«
»Trotzdem haben meine Leute Angst vor dir. Wie gesagt, die Instinkte. Das ist so ähnlich, wie wenn du … wovor haben Seeschlangen eigentlich Angst?«
Seine Stecknadelaugen fixieren mich. Sehe ich da gerade in ihnen einen Anflug von Unsicherheit?
»Genau darüber wollte ich mit dir reden«, sagt Rick leise. »In letzter Zeit plagen mich sehr schlimme Albträume. Ich durchlebe Ängste, die ich zuvor nie gekannt habe. Und ich merke, dass diese Ängste auf mein Leben abfärben. Wenn das so weitergeht, dann werde ich bald ängstlicher sein als eine Blindschleiche. Du hattest recht, Ray. Ich bin kein Held, ich bin nur ein armes Schwein, das von miesen Leuten für miese Zwecke missbraucht worden ist. Und jetzt scheint mich meine Vergangenheit einzuholen. Aber irgendwie hab ich das Gefühl, dass du mir helfen kannst. Vielleicht war es ja kein Zufall, dass wir beide uns begegnet sind.«
Weil mir gerade nichts Besseres einfällt, nicke ich bedächtig. Rick scheint mich zu so etwas wie seinem Therapeuten machen zu wollen. Das finde ich schon deshalb keine gute Idee, weil ich nicht die geringste Ahnung habe, wie ich ihm helfen kann.
Zum Glück fällt mir ein, dass ich kürzlich von ein paar Affen gehört habe, die Gesprächsrunden für Problemtiere veranstalten. »Vielleicht können die dir ja helfen.«
»Ja, ich weiß«, sagt Rick. »Das sind die Koboldmakis. Die nehmen aber nur leichte Fälle. Da geht es um Zookoller, Fressstörungen oder psychosomatische Fellprobleme. Kriegsveteranen stehen nicht auf der Liste. Ich hab schon gefragt.«
Wieder nicke ich bedächtig. Es hat vermutlich keinen Sinn, Rick zu erklären, dass ich als Schlangenpsychiater völlig ungeeignet bin. Also beschließe ich, das Beste aus der Situation zu machen, und sage: »Okay, Rick. Wenn du reden möchtest, dann reden wir. Aber lass uns reingehen. Drinnen ist es ein bisschen gemütlicher.«
Ricks aufgerichtetes vorderes Drittel schaukelt erfreut hin und her. »Danke, Mann! Das bedeutet mir sehr viel.«
Sergeant Rick und ich verbringen den Vormittag im Versammlungsraum des
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