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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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verliebt sei, und das tröstete sie ein wenig.
    Soll er ruhig ein bisschen leiden, dachte sie und schritt nachdenklich an den Zäunen entlang, auf der Suche nach jemandem, dem sie ihr großes Geheimnis erzählen könnte.
    Die Kirchentür stand offen. Angelique zupfte an ihrem kurzen T-Shirt, das ihr nur knapp über den Nabel reichte, und trat in das kühle Halbdunkel.
    Der Priester nahm gerade die Beichte ab. Neben dem großen, fast auf die Hälfte zusammengekrümmten Vater Konstantin stand die kleine alte Anna Markowna Frolowa, der Einfachheit halber nur Morkowna genannt, und vermeldete lauthals:
    »Ich hab vor, die Kartoffeln zu häufeln. Geben Sie mir Ihren Segen, Batjuschka!«
    »Tun Sie das mit Gott. Und Ihre Sünden?«
    »Was hab ich schon für Sünden! Ich will die achtzig noch erleben! Da gibt’s eine höhere Rente …«
    »Sie haben nichts zu bereuen? Ich habe aber gehört, dass Sie gestern vor dem Laden Jewdokija unflätig beschimpft und sogar mit Ihrer vollen Einkaufstasche geschlagen haben. Tut man denn so etwas?«
    »Jewdokija, die Lehrerin? Und wie ich die verprügelt habe! Was hat mir ihr verfluchter Kuska auch im Suff den ganzen Zaun niedergerissen?«
    »Das war natürlich nicht recht von ihm. Aber fluchen und prügeln, das ist nicht recht von Ihnen. In Ihrem Alter.«
    »Du bist wohl taub, Vater? Ich sag doch: Er hat meinen Zaun umgekippt!«
     
    Nach der Morkowna trat Angelique vor und berichtete laut flüsternd, dass sie furchtbar an unglücklicher Liebe leide.
    »Liebe ist nie unglücklich«, widersprach Vater Konstantin, und Angelique klappte der Mund auf. »Weil sie nichts für sich selbst will. Sie wünscht sich nur eines: dass der Geliebte da ist. Und das ist er. Was willst du mehr?«
    »Dass er bei mir ist!«
    »Aus dir spricht der Wunsch zu besitzen. Liebe dagegen ist der Wunsch zu geben. Also ist das, was du fühlst, keine Liebe.«
    »Aber mir tut das Herz weh!«
    »Und weshalb? Weil du gekränkt bist? Weil du nicht prompt bekommst, was du willst, wie als Kind? Aus verletztem Stolz? Das heißt, wie du es auch drehst und wendest, wegen dir selbst. Liebe aber, das ist, wenn du überhaupt nicht an dich denkst.«
    »So was gibt’s nur im Kino.« Angelique schüttelte den Kopf. »Außerdem – das ist doch gefährlich! Da kann man sich leicht verlieren!«
    »Wenn das so leicht wäre! Nichts ist zählebiger als unsere Eigensucht, unser Festhalten am eigenen Ich, das die ganze Welt verstellt. Doch wenn es auch nur für einen Augenblick gelingt, sich selbst zu vergessen – das ist ein solches Glück, eine solche Freiheit! Wenn du wüsstest!«
    »O nein! Das ist ein sehr merkwürdiges Glück. Ich finde, Glück, das ist, wenn dein Geliebter dich auch liebt. Und immer bei dir ist.«
    »Genau so ist es ja auch«, sagte Vater Konstantin, mehr zu sich selbst, und Angelique begriff, dass er bereits bei seinen eigenen Gedanken war.

ACHTES KAPITEL
Nastja
    Am Sonntagmorgen tauchte in Mitino ein neues Gesicht auf. Als Vater Konstantin zu Beginn des Gottesdienstes aus dem Altarraum trat, entdeckte er erstaunt, dass ihn außer drei alten Frauen und dem runden Rentner Gawrilow ein unbekanntes Mädchen ansah.
    Allem Anschein nach war sie weit älter als Angelique und die beiden Daschas, aber eine andere Bezeichnung als »Mädchen« kam ihm nicht in den Sinn. So arglos war ihr Blick: ohne doppelten Boden, ohne ständige Rückversicherung und Sorge um die eigene Person. So schaute höchstens noch Minkin in die Welt.
    Ihr Gesicht – ohne einen einzigen ebenmäßigen Zug – war beeindruckend. Die Bewegung, die darin herrschte, war nicht Lebhaftigkeit, nicht Gemütsregung, nicht Temperament, nein, es war das Leben selbst. Vater Konstantin bemerkte plötzlich mit Entsetzen, dass all die anderen Gesichter, die ihm aus dem Halbdunkel zugewandt waren, tot waren wie aus der Steckdose gezogene Geräte: Egal, auf welchen Knopf man drückt, es regt sich nichts.
    Diese qualvolle Vision währte ein paar Sekunden. Unter gewaltiger Anstrengung kehrte er zurück zu seinem normalen Blick und sah erstarrte, altersdunkle, leblose, aber dennoch nicht hoffnungslos verlorene Menschen.
     
    »Woher kommst du?«, fragte er bei der Beichte.
    »Aus dem Dorf.« Das Mädchen lächelte. »Dummendorf, wie man es hier nennt. Kennen Sie es? Hinterm Wald, über den Fluss.«
    Dann erzählte sie auf seine Fragen hin, nicht eben gern, aber ohne zur Schau gestellte Bescheidenheit, dass sie erst vor kurzem hergekommen sei, als Freiwillige, und

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