Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
dass die ganze Arbeit darin bestehe, mit kranken Menschen zusammenzuleben, mit ihnen zu reden und ihnen ein wenig zu helfen.
     
    Der Kirchenälteste Gawrilow, der ihr Gespräch aufmerksam belauschte, schüttelte finster den Kopf, schlug die Augen nieder, griff sich ans Herz – kurz, seine ganze Haltung drückte äußerste Besorgnis, ja Protest aus.
    Gawrilow betrachtete das Dummendorf als seinen Erzfeind. An etliche Instanzen hatte er schon geschrieben und verlangt, ihn von der gefährlichen Nachbarschaft zu befreien. Ergebnis waren zahlreiche Kontrollen – vom Finanzamt bis zur Brandschutzaufsicht – in der Brutstätte psychischer Störungen . Doch die unbewachten Irren liefen noch immer frei herum, ja manchmal – was nun gänzlich jedes Maß überstieg – ritten sie sogar auf einem weißen Pferd übers Feld.
    Der Rentner Gawrilow mutmaßte, dass das bösartige Projekt seine Immunität heimlichen internationalen Machenschaften verdanke, und darunter litt er besonders.
    Agenten des Zionismus und der geheimen Freimaurerregierung, die den Planeten beherrscht, sind kampflos mitten ins Herz unserer Großen Heimat eingedrungen! , appellierte Gawrilow an die Organe der Staatssicherheit, doch die legten eine verdächtige Sorglosigkeit an den Tag und ignorierten die Schreiben des wachsamen Rentners aus Mitino.
     
    Nach dem Gottesdienst sprach der Kirchenälteste Gawrilow das Mädchen an, das in der Höhle des Feindes arbeitete. Sie strahlte nur, schwieg und lächelte, und bis auf die vollkommen nutzlose Information, dass sie Nastja hieß, bekam er nichts aus ihr heraus. Direkte Fragen verboten sich aus Gründen der Konspiration, und seine durchsichtigen Andeutungen verstand sie einfach nicht.
    Ist die schwer von Begriff, dachte Gawrilow ärgerlich. Wo kommen solche Narren bloß her! Vielleicht hat Klawdija ja recht, und auch die Dummheit ist ansteckend? Ich sollte ans Gesundheitsministerium schreiben!
     
    Mitja erwachte, als Vater Konstantin oben auf dem Glockenturm sämtliche Glocken läutete. Der Gottesdienst war zu Ende. Die Prosphora im zahnlosen Mund zermümmelnd, gingen die Gemeindeglieder nach Hause.
    Mitja stieg rasch vom Boden herunter und machte sich auf zu seiner Alten. Jeden Sonntag kam sie in einem klapprigen kleinen Laster aus dem Nachbardorf. Ein riesiger stummer Kerl – der Sohn der Alten – lud unglaublichen Trödel aus, den die Alte vor dem Kirchenzaun ordentlich auf Zeitungen ausbreitete.
    Das Dorf, dessen einzige verbliebene Bewohner die alte Frau und ihr Sohn waren, war auf Karten gar nicht mehr verzeichnet. Der Riese riss ganz allein die verlassenen Hütten ab und verkaufte die noch stabilen Balken ans Sägewerk. Und die Alte verkaufte die Habe aus den Häusern, in denen sie zu Lebzeiten der Bewohner häufig zu Gast gewesen war.
    Eine Zuckerdose mit abgeschlagenem Henkel, ein Porzellanfisch, der einmal eine Anrichte geziert hatte, ein löchriger Fingerhut, eine einäugige Puppe ohne Beine, eine beinerne Zigarettenspitze mit der Gravur Zur Erinnerung an die Krim. 1937 . Mitja konnte diese Splitter der Zeit endlos betrachten, sich aber kaum je entschließen, sie zu berühren oder gar etwas zu kaufen.
    Er fand es irgendwie peinlich, einfach so in fremden Dingen zu wühlen, die noch warm waren von der Berührung anderer Hände.
    Seit die Alte wusste, dass er Historiker war, bot sie ihm hartnäckig immer wieder eine Sammlung von fünfzig Schallplatten mit der Aufzeichnung einer Stalin-Rede auf einem KP d SU -Parteitag an. Die ersten fünf waren ein wenig nass geworden vom Regen, aber sie schwor, das sei egal – da ist sowieso nur Beifall drauf .
    Als sie das erste Mal da war, hatte Vater Konstantin, ohne zu feilschen, ein halb abgewetztes kleines Heiligenbild aus Messing gekauft, und das hatte die Alte, die auf einen Schlag fast die Hälfte ihrer Rente dazuverdient hatte, sehr beflügelt. Doch mehr Devotionalien fanden sich in den Behausungen nicht. Und der Handel lief schlecht.
    Manchmal kamen Frauen aus dem Dorf, kramten lange in den Haufen, fischten schließlich irgendetwas heraus, das für den Haushalt taugte, und stritten leidenschaftlich um den Preis. Die Alte gab eingedenk ihres anfänglichen Erfolgs nur ungern nach und kapitulierte erst, wenn die Kundinnen, heiser vom Feilschen, ihr den Rücken zukehrten.
     
    Diesmal stand neben der Alten ein unscheinbares Mädchen, das Mitja mehrfach flüchtig im Dummendorf gesehen hatte, und blätterte gebannt in einem alten Fotoalbum. Eingeschüchtert

Weitere Kostenlose Bücher