Dune 01: Der Wüstenplanet
Spannung schwand jetzt, und obwohl das Tochter-Partikel kaum noch zu spüren war, wußte Jessica, daß es in ihr steckte und fühlbar war. Vorsichtig tastete sie danach. Sie spürte ein Schuldgefühl, weil sie etwas zugelassen hatte, was sie eigentlich hätte verhindern sollen.
Ich habe es getan, meine arme, ungeformte, liebe kleine Tochter. Ich habe dich diesem Universum ausgesetzt und all seinen Zufällen, ohne daß du eine Möglichkeit besaßest, dich dagegen zu wehren.
Das winzige Partikel schien jetzt einen kleinen Teil der von ihr ausgestrahlten Zuneigung zurückzugeben.
Bevor Jessica darauf reagieren konnte, drängte sich ihr eine Erinnerung auf. Da war etwas, das getan werden mußte. Sie versuchte danach zu greifen und stellte fest, daß es die Droge war, die ihre weiteren Überlegungen behinderte.
Ich könnte sie verändern, dachte sie. Ich könnte die Wirkung der Droge wirkungslos machen. Aber gleichzeitig verstand sie, daß dies falsch war. Die Veränderung ist noch nicht abgeschlossen.
Dann wußte sie, was sie zu tun hatte.
Sie öffnete die Augen und deutete auf den Wassersack, den Chani hoch in den Händen hielt.
»Es ist gesegnet«, sprach Jessica. »Vermischt das Wasser und laßt die Veränderung zu allen kommen, damit das Volk schaut und der Segnung teilhaftig wird.«
Der Katalysator soll nun seine Arbeit beginnen, dachte sie. Die Leute sollen davon trinken und sich für eine Weile besser erkennen. Die Droge ist jetzt ungefährlich ... nachdem die Ehrwürdige Mutter sie neutralisiert hat.
Immer noch wirkte die fordernde Erinnerung auf sie ein. Es gab noch eine andere Sache, die sie erledigen mußte, wurde ihr klar, aber es war schwierig, unter den Nachwirkungen der Droge zu handeln.
Ah ... die alte Ehrwürdige Mutter.
»Ich habe die alte Ehrwürdige Mutter Ramallo getroffen«, sagte sie. »Sie hat uns verlassen, aber ihr Geist wird immer unter uns sein. Laßt uns die Erinnerung an sie in den Riten ehren.« Woher habe ich die Kenntnis dieser Worte? fragte sich Jessica.
Sie erkannte, daß diese Worte aus einem anderen Leben stammten; aus einem Leben, das ihr geschenkt worden war, mit all seinen Erfahrungen, seinem Glück und seinem Leid. Und jetzt war es ein Teil von ihr, auch wenn es noch irgendwie unvollständig schien.
»Laß sie eine Orgie feiern«, sagte das andere Gedächtnis in ihr. »Ihr Leben ist hart, und sie haben nicht viel von ihm. Ja, und wir beide – du und ich – brauchen etwas Zeit, um miteinander bessere Kontakte zu knüpfen, bevor ich mich in deine Gedankenwelt begebe und mit ihr verschmelze. Bereits jetzt bin ich ein Teil von dir. Ah, dein Bewußtsein enthält viele interessante Dinge. Dinge, die ich mir bislang nicht einmal annähernd vorstellen konnte.«
Und das andere Gedächtnis öffnete sich vor Jessica und erlaubte ihr einen Blick in einen langen Korridor, der zu einer anderen Ehrwürdigen Mutter führte, und dann zu einer weiteren und zu einer weiteren und zu einer weiteren. Es schien kein Ende zu geben.
Jessica zog sich zunächst zurück. Sie hatte die unbestimmte Vorahnung, sich in diesem absoluten Einssein zu verlieren, doch blieb der Korridor weiterhin für sie geöffnet. Er symbolisierte die Tatsache, daß die Kultur der Fremen weitaus älter war, als sie bisher angenommen hatte.
Es hatte Fremen auf Poritrin gegeben, stellte sie fest; Leute, die auf diesem herrlichen Planeten verweichlicht worden waren und den Imperialen Truppen keinerlei nennenswerten Widerstand bieten konnten, als diese über sie herfielen und sie nach Bela Tegeuse und Salusa Secundus verschleppten, auf denen die ersten menschlichen Kolonien gegründet wurden.
Oh, das Wehklagen, das sie in diesem Zerreißen eines Volkes wahrnahm.
Von irgendwoher aus der Tiefe des Korridors rief eine körperlose Stimme: »Sie haben uns die Hadj verweigert!«
Jessica sah die Sklavenbergwerke von Bela Tegeuse am Ende des inneren Korridors und die brutalen Auswahlmethoden, mit denen man die Männer nach Rossak und Harmonthep verschleppte. Es öffnete sich vor ihr die Blende eines Objektivs, und sie sah, daß die Szenen der Vergangenheit von Sayyadina zu Sayyadina weitergegeben worden waren, zunächst nur durch mündliche Überlieferungen und in den geheimen Texten der Sandlieder, dann durch die Erinnerungen der Ehrwürdigen Mutter, nachdem man die giftige Droge auf Rossak entdeckt hatte, deren Wirkung auf Arrakis durch das Wasser des Lebens verstärkt wurde.
Eine andere Stimme schrie aus dem Korridor
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