Dungirri 01 - Schwarze Dornen
Isabelle sich an ihren Schreibtisch setzte, und seine Stimme hallte durch den leeren Saal.
»Nein. Es wird eine Weile dauern, bis sie die im Archiv in Sydney ausgegraben haben. Aber ich habe die Schule gebeten, mir die alten Jahrbücher aus der Bibliothek zu schicken, für die Jahrgangsstufen bis fünf Jahre über und unter mir. Die sind nicht so lückenlos wie die offiziellen Verzeichnisse, aber es ist auf jeden Fall ein Anfang.«
Sie nahm ein Heft von dem Stapel auf ihrem Schreibtisch und reichte es ihm.
»Bilder von jedem Schüler der zwölften Klasse, dazu Klassenfotos der unteren Jahrgänge. Gut möglich, dass die Bilder meinem Gedächtnis eher auf die Sprünge helfen als die Namen. Die Eltern der verschwundenen Mädchen sind alle etwa in meinem Alter. Ich glaube zwar nicht, dass Kaseys Eltern, die Tomasis aus Jerran Creek, irgendetwas mit Dungirri oder Birraga zu tun haben, aber die anderen … Na ja, wenn es nicht reine Willkür ist, dann sollte die Verbindung irgendwo hier drin zu finden sein.«
Er nickte und überflog die Seiten. Auf dem Klassenfoto der Zehnten - ihr letztes Jahr auf der Birraga Highschool, bevor sie mit ihrem Vater weggezogen war - starrte ihm über Jahrzehnte hinweg ihr sechzehnjähriges Gesicht entgegen. Ein Mona-Lisa-Lächeln umspielte ihre Lippen,
und dieselben ernsten, grauen Augen blickten durch die Kamera hindurch, als könnten sie in die Zukunft sehen, direkt zu ihm. Ein völlig verrückter Gedanke für einen Mann, der sich einiges auf seinen gesunden Menschenverstand einbildete, und trotzdem ließ dieser verwirrende Eindruck seinen Nacken kribbeln.
Er sah sich auch die Mitschüler kurz an. Die Klasse umfasste über vierzig Schüler, und die jugendlichen Gesichter strotzten vor Leben, Hoffnung und Zuversicht.
Er erkannte Darren Oldham, hoch aufgeschossen und schmächtig, selbst die Haare standen spitz vom Kopf ab. Mark Strelitz, gepflegt, aber nicht streberhaft, mit seinem charakteristischen, offenen Lächeln, das schon auf eine Zukunft im öffentlichen Leben hindeutete. Paul Barrett mit schiefer Highschool-Krawatte. Und Ryan Wilson, der die Übrigen um einen Kopf überragte und schon damals den bulligen Körperbau besaß, der ihm auf dem Rugby-Feld sicher einen Vorteil verschafft hatte.
»Die Eltern von Jessica - die Sutherlands - waren die auch in deiner Klasse?«
Sie trat neben ihn, blickte über seinen Arm hinweg auf die Seite, und ihre Nähe brachte seinen Puls zum Rasen. Er setzte kurz aus, als sie die Hand ausstreckte, um auf das Foto zu deuten, und ihr Unterarm über seinen strich. Er zwang sich, sich wieder auf das Bild zu konzentrieren.
»Da in der ersten Reihe, das ist Sara«, sagte sie. »Und der da, neben Ryan, das ist Mitch.«
Die beiden Teenager grinsten breit, als hätten sie eben einen Streich ausgeheckt. Wie unglaublich jung die beiden aussahen. Jung und unschuldig, trotz des schelmischen Glitzerns in ihren Augen. Keiner von ihnen zeigte die Härte und Abgestumpftheit, die er bei den Jugendlichen,
die er in der Großstadt aufgriff, schon zu oft gesehen hatte.
Aber er hatte gestern in Ryans Gesicht die niederschmetternde Ernüchterung gesehen, und wohin Mitch und Sara auch immer gegangen sein mochten, nachdem sie Dungirri verlassen hatten, er wusste, sie hatten todsicher nicht gelächelt.
Neben ihm atmete Bella scharf ein, fast wie ein Zucken.
»Fünf davon sind schon tot«, stellte sie fest. »Barb Russell ist an Krebs gestorben. Paula kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, gleich nach dem Schulabschluss. Mick, der Alkoholiker in der Bar heute, das ist ihr Vater. Robbie und Pete starben an einem unbeschrankten Bahnübergang. Und Ben …« Sie brach ab, biss sich auf die Lippen und schluckte schwer. »Ben war der Cousin von Mitch. Kris erzählte mir, dass er letztes Jahr Unkrautvernichter getrunken hat, wenige Wochen, nachdem Jess …« Ihre Stimme verlor sich.
Unkrautvernichter? Alec wurde fast übel. Warum hatte der Mann unter den vielen Möglichkeiten, sich das Leben zu nehmen, eine so schreckliche gewählt? Das ließ entweder auf extreme Schuldgefühle oder auf einen äußerst verwirrten Geist schließen. Sollte er dem Mob angehört haben, der Chalmers gelyncht hatte, war beides denkbar.
»Fünf von fünfundvierzig in nur neunzehn Jahren«, konstatierte Bella mit bestürzender Ruhe. »Das hätten wir damals nie und nimmer geglaubt.«
»Teenager halten sich oft für unsterblich.«
»Ja.« Eine unendliche Traurigkeit lag in ihrem tiefen,
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