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Dunkel ueber Longmont

Dunkel ueber Longmont

Titel: Dunkel ueber Longmont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Farland
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geschrieben und Euch geschickt. Ich werde alt. Mein Leben neigt sich dem Ende zu. Wenn ich sterbe und die Days die Geschichte meines Lebens niederschreiben, möchte ich, daß Ihr die beiden Chroniken vergleicht. Welchen Abschnitt meines Lebens werden die Days auslassen?
    Welchen Abschnitt werden sie beschönigen?
    Lebt wohl mein Bruder in Rechtschaffenheit.
    Gaborn las das Schriftstück mehrmals. Die Lehren der Days wirkten nicht besonders tiefgründig. In Wahrheit wirkten sie eher einleuchtend und geradeaus. Er sah keinen Grund, wieso sie geheimgehalten werden sollten, schon gar nicht vor den Runenlords.
    Trotzdem hütete der Emir diese Schriften und fürchtete eine nicht näher zu benennende Vergeltung.
    Gaborn wußte aber, daß kleine Dinge manchmal sehr mächtig sein konnten. Als Kind von fünf Jahren hatte er oft versucht, die riesigen Hellebarden hochzuheben, die die Gardisten seines Vaters in die Fallgatter bohrten. In diesem Alter hatte er die erste Gabe an Muskelkraft bekommen, und gleich darauf war er hinausgegangen und konnte den Spieß nun mühelos hochheben und schwenken. Eine einzige Gabe der Kraft schien eine ungeheure Sache. Jetzt, als Runenlord, wußte er, daß es gar nichts war.
    Dennoch erstaunten ihn diese Lehren. Beim Lesen dieser Lehren aus dem Saal der Träume fragte er sich, ob es möglich war, nach den Maßstäben der Days ein »guter« Runenlord zu sein. Wer Gaben übereignete, bedauerte dies gewöhnlich nach kurzer Zeit. Doch war die Gabe einmal übernommen, konnte dies nicht mehr rückgängig gemacht werden. Von diesem Augenblick an wurde jede Gabe, die ein Runenlord besaß, von den Days als Übertretung angesehen.
    So fragte sich Gaborn, ob irgendwelche annehmbaren Umstände existierten, unter denen es Rechtens war, daß jemand eine Gabe abtrat. Vielleicht, wenn zwei Menschen ihre Kräfte vereinen wollten, um gegen ein mächtiges Unheil anzukämpfen. Das war jedoch nur möglich, wenn er und sein Übereigner sich einig waren.
    Doch im Kern der Lehren der Days gab es ein Konzept, das er kaum begriff: jedermann ist ein Lord. Alle Menschen sind gleich.
    Gaborn stammte von Erden Geboren selbst ab, der Leben gab und nahm, den die Erde selbst zum König ernannt hatte.
    Wenn die Mächte einen Mann dem anderen vorzogen, dann konnte man die Menschen nicht als gleich betrachten. Er fragte sich, wo der Ausgleich lag, glaubte, daß er kurz davor stand, erleuchtet zu werden.
    Er hatte sich immer als rechtmäßigen Lord seines Volkes betrachtet. Aber er war auch sein Diener. Es war die Pflicht eines Runenlords, seine Untertanen zu beschützen, sie mit seinem Leben zu verteidigen.
    Die Days waren der Ansicht, alle Menschen seien Lords.
    Hieß das, daß niemand ein gewöhnlicher Mensch war? Hatte Gaborn damit kein Anrecht auf den Rang eines Lords?
    Während der letzten Tage hatte er darüber nachgedacht, ob er ein guter Prinz sei. Er hatte sich mit dieser Frage abgequält, jedoch keine endgültige, eindeutige Antwort gefunden. Nun versuchte Gaborn, die Lehren der Days und ihre Folgerungen auf die Welt zu übertragen.
    Während er so auf dem Kellerboden lag, begannen diese Thesen, sein Denken für alle Zeit zu verändern.
    Was den Selbstschutz anbelangte, fragte sich Gaborn, wie konnte er sich selber schützen, ohne die Sphären eines anderen zu verletzen? Dem Diagramm zufolge wies der äußere Ring, der Ring der unsichtbaren Sphäre, Unterteilungen auf, die sich im Vagen hielten. Wo endete die Körperaura eines Mannes, wo begann die eines anderen?
    Vielleicht, überlegte Gaborn, gab es eine Liste allgemein gültiger Reaktionen. Wenn jemand deine unsichtbare Sphäre verletzt, sollst du ihn warnen. Einfach mit ihm sprechen.
    Wenn er aber deine gemeinschaftliche Sphäre verletzt, wenn er es, sagen wir, darauf abgesehen hat, deinen Ruf zu ruinieren, mußt du den Fall anderen vortragen und diese Person öffentlich zur Rechenschaft ziehen.
    Versucht aber jemand, deine sichtbare Sphäre zu verletzen, wenn er beabsichtigt, dich zu töten oder deinen Besitz zu rauben, dann sah Gaborn keinen anderen Ausweg, als zu den Waffen zu greifen.
    Vielleicht war das die Antwort. Ihm schien es, als würden die Sphären zunehmend persönlicher, je weiter man sich vom äußeren Kreis auf den inneren zubewegte. Die Verteidigung der privateren Sphäre verlangte also nach einem wirkungsvolleren Vorgehen.
    Aber wäre das gut? Wie kam hierbei Güte ins Spiel? Eine maßvolle Reaktion schien gerade in dieser Hinsicht angebracht, doch

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