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Dunkel ueber Longmont

Dunkel ueber Longmont

Titel: Dunkel ueber Longmont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Farland
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Beobachter es für einen Menschen halten können, hätte ihm nicht jegliche Farbe gefehlt. Jede Braue, jeder Fingernagel, jeder Gesichtszug und jede Faser seiner Kleidung schien perfekt nachgebildet.
    Dann sprach der Erdgeist.
    Das Geschöpf aus Staub bewegte den Mund nicht. Statt dessen schienen die Worte von überall ringsum zu kommen.
    Seine Stimme war der Klang des Windes, der seufzend über eine Wiese streicht oder der zwischen einsamen Gipfeln hindurchpfeift. Das Stöhnen von Steinen, die durch einen Bach kullern oder einen Hang hinabrollen.
    Gaborn verstand nichts von alledem, wenn er auch erkannte, daß es eine Ansprache war. Binnesman lauschte aufmerksam und übersetzte: »Er fragt Euch, Gaborn: ›Willst du einen Eid auf mich schwören, Menschensohn?‹«
    Die seltsamen Geräusche wurden fortgesetzt, und Binnesman dachte einen Augenblick lang nach, bevor er hinzufügte: »Du sagst, du liebst das Land. Aber würdest du einen Eid auf mich in Ehren halten, selbst wenn ich das Gesicht eines Feindes hätte?«
    Gaborn sah Binnesman nach Antwort suchend an, und der Zauberer nickte und drängte ihn, den Erdgeist direkt anzusprechen.
    So etwas wie dieses Geschöpf hatte Gaborn noch nie gesehen, hatte noch nie davon erzählen hören. Der Erdgeist hatte ihn aufgesucht, hatte dafür eine Gestalt gewählt, die Gaborn sehen und verstehen konnte. Manche Menschen behaupteten, sie könnten ins Feuer sehen und das Angesicht der Macht dahinter erblicken, Gaborn fand jedoch oft, daß das Feuer dasjenige aller Elemente war, dem man sich am ehesten nähern konnte, der Luft dagegen am schlechtesten. Er hatte nie vernommen, daß die Erde sich auf diese Art offenbarte.
    »Ich liebe das Land«, erwiderte Gaborn schließlich.
    Das seltsame Gelärme weit entfernter Geräusche wurde wieder lauter. »Wie kannst du lieben, was du nicht begreifst?«
    »Ich liebe, was ich begreife, und das übrige werde ich vermutlich auch lieben«, versuchte Gaborn wahrheitsgemäß zu antworten.
    Der Erdgeist lächelte spöttisch. Felsbrocken polterten.
    Binnesman sagte: »Eines Tages wirst du mich verstehen, wenn dein Körper sich mit meinem verbindet. Fürchtest du diesen Tag?«
    Der Tod. Der Erdgeist wollte wissen, ob er den Tod fürchtete.
    »Ja.« Gaborn wagte nicht zu lügen.
    »Dann kannst du mich nicht von ganzem Herzen lieben«, sprach der Erdgeist leise. »Wirst du mir trotzdem helfen?«
    Raj Ahten. Das Wesen glich so sehr Raj Ahten. Gaborn wußte, was der Erdgeist von ihm erwartete. Etwas mehr, als das Leben mit beiden Armen zu umschließen. Etwas mehr, als einem Menschen zu dienen. Er sollte Tod und Verfall in die Arme schließen und die Gesamtheit dessen, das die Erde ausmachte.
    Seltsames war auf dem Gesicht des Erdgeistes zu sehen, Gefühle, die nicht menschlich waren. Gaborn blickte in diese Augen, und Bilder strömten in seinen Kopf: eine Wiese weit südlich von Bannisferre, wo weiße Steine wie Zähne aus dem grünen Gras hervorragten, die malerischen, purpurnen Berge von Alcair, wie man sie in der Ferne südlich der Heimat sehen konnte. Doch da war noch mehr – weite Spalten, Höhlen und Schluchten tief unterhalb der Erde, Orte, die er nie betreten hatte. Bunte Erdschichten und Tonnen formlosen, dunklen Feldgesteins, so tief unter der Erde, daß kein Mensch das alles erfassen oder nur ansatzweise begreifen konnte. Edelsteine und Schlamm und Blätter, die auf dem Waldboden zwischen den Gebeinen von Menschen verfaulten. Der Geruch von Schwefel und Asche, Gras und Blut. Flüsse, die an den dunklen Orten der Welt tosten und schäumten, und endlose Meere, die auf dem Antlitz der Erde lagen wie Freudentränen.
    Du kannst mich nicht kennen, wollte ihm der Erdgeist damit sagen. Du kannst mich nicht verstehen. Du siehst nur Oberflächen. Obwohl du mich zum Verbündeten willst, werde ich auch dein Feind sein müssen.
    Gaborn wog jedes einzelne Wort des Eides gründlich ab und fragte sich, ob er ihn würde halten können.
    »Warum wollt Ihr, daß ich diesen Eid ablege?« fragte Gaborn. »Was bedeutet das, der Erde niemals Schaden zuzufügen? Was bedeutet es, einen Samen der Menschlichkeit zu bewahren?«
    Diesmal zögerte Binnesman nicht, als er die Antwort des Erdgeistes übersetzte, die eher ein Seufzen des Windes war denn ein Grollen. »Du wirst nicht versuchen, meine Pläne zu durchkreuzen«, sagte der Erdgeist und lehnte sich beiläufig nach hinten an den Stamm eines dunklen Baumes, der ihn wie eine hohle Hand zu halten schien. »Du wirst

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