Dunkel ueber Longmont
Kopf.
Iome schrie vor Schmerz und Entsetzen, und noch immer strömte es aus ihr heraus. Einen Augenblick lang schien es, als blickte sie in die Vergessenheit, als betrachtete sie sich voller Ekel, als begreife sie zum allerersten Mal in ihrem Leben, daß sie ein Nichts war und immer gewesen war, ein Niemand. Sie hatte Angst, zu schreien, weil sie befürchtete, andere könnten es ihr übelnehmen.
Das ist gelogen. Das schlage ich Euch ab , rief sie Raj Ahten im Geiste zu. Meine Schönheit könnt Ihr haben, aber ich werde mich damit nie zufriedengeben.
Und dann bewegte sie sich vom Abgrund fort und fühlte sich nur noch… allein. Vollkommen allein, mit sich und unsäglichen Schmerzen.
Irgendwie gelang ihr ein seltenes Kunststück: sie fiel angesichts der Unerbittlichkeit des Zwingeisens nicht in Ohnmacht, auch wenn es ihr vorkam, als würde ihr gesamter Körper von den Flammen verschlungen.
KAPITEL 11
Verpflichtungen
Kaltes, schwarzes Flußwasser umspülte Gaborns Hüften wie eine Totenhand, die versuchte, ihn flußabwärts zu ziehen.
Rowan, die in der Dunkelheit am Ufer direkt über ihm hockte, stöhnte laut vor Schmerzen und krümmte sich.
»Was ist?« flüsterte Gaborn, der kaum wagte, die Lippen zu Öffnen.
»Die Königin sie ist tot«, wimmerte Rowan.
Dann begriff er. Nach Jahren der verlorenen Gefühle, Jahren der Abgestumpftheit, stürzte die ganze Welt der Empfindungen auf Rowan ein – die Kälte des Wassers und der Nacht, die Schmerzen ihrer zerschundenen Füße, die Müdigkeit nach einem harten Arbeitstag, und zahllose andere, kleine Verletzungen.
Wer eine Gabe des Tastsinns hergab, fühlte, sobald die Sinne zurückkehrten, die Welt neu, wie zum allerersten Mal. Das konnte ein ungeheurer, mitunter tödlicher Schock sein, denn die Empfindungen waren plötzlich zwanzigmal stärker als zuvor. Gaborn machte sich Sorgen um die junge Frau und darum, ob sie weiter würde reisen können. Das Wasser hier war gräßlich kalt. Ganz sicher konnte er nicht hoffen, Rowan hindurchzuschaffen.
Aber schlimmer noch, wenn die Königin tot war, befürchtete Gaborn, daß Raj Ahten auch die anderen Mitglieder der königlichen Familie ermorden würde – König Sylvarresta und Iome.
Verpflichtungen. Gaborn war zu viele Verpflichtungen eingegangen. Und die überforderten ihn nun. Er hatte die Verantwortung für Rowan übernommen und traute sich nicht, sie durch den Fluß zu tragen. Aber er hatte auch versprochen, zu Iome zurückzukehren und sie zu retten. Gaborn wollte im Fluß niederknien und sich die brennende Wunde an seinen Rippen kühlen lassen. Eine leichte Brise wiegte die Äste der Erlen und Birken über ihm. Hier im tiefen Schatten konnte er sehen, wie sich der gelblichrote Widerschein des Feuers weiter oben auf dem Wasser flußabwärts spiegelte.
Binnesmans
Garten
stand
in
Flammen.
Am
gegenüberliegenden Ufer grunzten die Nomen, Schatten im Dunkeln, die hin und her liefen und versuchten, Gaborn ausfindig zu machen. Solange er sich jedoch nicht bewegte, war er hier im Dickicht gut versteckt. Die Frowth-Riesen durchstöberten die Untiefen weiter flußabwärts. Wäre er allein gewesen, wäre er vermutlich von hier fortgeschwommen, von Burg Sylvarresta geflohen und hätte seinem Vater die Nachricht von ihrem Fall überbringen können. Er war ein schneller Schwimmer. Das Wasser war zwar flach, trotzdem glaubte er, daß er es schaffen würde. Aber mit Rowan zusammen war es aussichtslos.
Ihm bot sich keine Möglichkeit, den Umkreis der Burg Sylvarresta zu verlassen.
Ich habe es Iome geschworen, erinnerte er sich. Ich habe einen Eid geleistet. Sie steht unter meinem Schutz. Zum einen, weil er ein Runenlord war, zum anderen jetzt auch als Teil seines Eides an die Erde. Beides waren Schwüre, die er nicht ohne weiteres brechen konnte.
Einen Tag zuvor, auf dem Markt in Bannisferre, hatte Myrrima ihn dafür getadelt, daß er nicht leicht Verpflichtungen einging. Sie hatte recht. Er traute sich nicht.
»Was ist ein Runenlord anderes«, hatte seine Mutter ihm als Kind beigebracht, »denn ein Mann, der ein Versprechen hält?
Deine Untertanen überlassen dir Gaben, und du gewährst ihnen dafür Schutz. Sie überlassen dir Geisteskraft, und du führst sie weise. Sie geben dir Muskelkraft, und du kämpfst wie ein Greifer. Sie statten dich mit Durchhaltevermögen aus, und du arbeitest hart für sie. Du lebst für sie. Und wenn du sie so liebst, wie du solltest, stirbst du auch für sie. Kein Untertan wird eine Gabe
Weitere Kostenlose Bücher