Dunkel wie der Tod
wo sonst, wenn nicht hier in der Kirche, sie wohl an einem Sonntagmorgen um diese Zeit sein könnten. Natürlich war es erst vierundzwanzig Stunden her, da man den Leichnam ihrer Tochter gefunden hatte, aber dennoch â¦
âVielleichtâ, meinte sie, âwar Mrs. Fallon zu sehr von Bridies Tod erschüttert, als dass sie â¦â In diesem Augenblick entdeckte sie auf einmal ein bekanntes Gesicht in der Menge â zwei bekannte Gesichter sogar, wenngleich nicht die der Fallons. Die beiden waren jung und hatten helles blondes Haar, das Mädchen war klein und zierlich, der junge Mann groà und behäbig. âEvie!â, rief Nell. Wie hieà noch mal ihr Bruder? Ach ja ⦠âLuther!â
Evie schaute Nell einen Moment lang verwundert an, bevor sie sich wieder an sie erinnerte. Schüchtern kam sie herüber, wie immer gefolgt von ihrem Bruder, der neben ihr wie ein zu groà geratener Kuschelbär wirkte. âSie waren doch die Künstlerin, die uns bei der Tuchfabrik gezeichnet hat!â
âGanz genau â Nell Sweeney.â Nell stellte den Geschwistern Will vor, der höflich den Hut zog und sich vor Evie verneigte.
âSind Sie mit Mr. Harry verwandt?â, fragte Evie ihn.
âIch bin sein Bruderâ, erwiderte Will.
Luther starrte Will mit halb offenem Mund an. âDu sprichst aber komisch.â
Will reagierte mit so freundlicher Selbstverständlichkeit, als würden sie auf irgendeiner Abendgesellschaft miteinander plaudern. âIch bin in England aufgewachsen.â
âIst das hier in der Nähe von Boston?â
âNein, leider nicht.â
âEvieâ, sagte Nell, âdu kennst nicht zufällig Mr. und Mrs. Fallon? Bridie Sullivans Elternâ, fügte sie hinzu.
âDie Mutter kenne ich vom Sehenâ, meinte Evie. âNachdem man Bridie rausgeworfen hatte, war ihre Mutter mal in die Spinnerei gekommen, um uns nach ihr zu fragen. Wirklich schrecklich, was da passiert ist ⦠Pfarrer Dunne hat es uns am Anfang der Messe erzählt.â
âBridie ist totâ, sagte Luther.
âRuhig, Lutherâ, murmelte seine Schwester. âDas wissen wir nun alle.â
âSie war ein schlechtes Mädchen.â
âRuhig, habe ich gesagtâ, wiederholte Evie, nun etwas nachdrücklicher. âDu sollst nicht schlecht von den Toten sprechen.â
âHast du gesehen, ob sie heute Morgen in der Kirche war?â, fragte Nell.
âOh ja, natürlich. Mrs. Fallon â die kommt jede Woche. Mr. Fallon auch, meistens zumindest. Und heute waren sie beide da.â
âWeiÃt du, wo sie jetzt sein könnten?â, fragte Nell weiter.
âIch habe gesehen, wie sie nach der Messe in Pfarrer Dunnes Büro gegangen sind, mit noch irgendjemand. Kann sein, dass sie mit dem Pfarrer die Beerdigung besprechen, und der andere war vielleicht Bridies Mann, aber â¦â
âAber was?â
âDas kann ja eigentlich gar nicht sein ⦠oder? Sie hat keinen Ehering getragen, und sie ⦠sie hat sich nicht benommen, als ob sie verheiratet wär.â
âGott sei Dank, dass die weg ist â¦â Luther schüttelte seinen Kopf wie ein Pferd, das sein Zaumzeug abstreifen will. âBridie war ein schlechtes Mädchen.â
Evie hatte schon den Mund geöffnet, um Luther zurechtzuweisen, da fragte Will bereits: âWarum hast du das eben gesagt, Luther?â
Luther schaute erst seine Schwester an, dann Will, und dann kratzte er sich seinen groÃen, wild zerzausten Schädel. âDa gibtâs viele Gründe â¦â
âSag einfach einen.â
âSie wollte, dass Mr. Harry ihr Geld gibt.â
âEvie hat dir von der Erpressung erzählt?â, fragte Nell.
âNein, er weià gar nichtsâ, mischte Evie sich ein.
âIsâ so wie klauen, wenn man will, dass einer einem einfach so Geld gibtâ, sagte Luther.
âUnd weshalb war Bridie noch ein schlechtes Mädchen?â, fragte Nell weiter.
Luther zog den Kopf ein. âDarf ich nicht sagen.â
âWegen der Sachen, die sie ⦠mit Männern gemacht hat?â, schlug Nell vor.
âGanz genauâ, sagte Evie. âAber davon versteht Luther nichts â¦â
âNicht wegen den andern war sie schlecht, nur wegen Mr. Harryâ, fuhr ihr Bruder unverdrossen fort. âWegen dem, was sie mit Mr. Harry gemacht hat â weil er und Evie sich
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