Dunkelheit soll dich umfangen: Thriller (German Edition)
Mutter und Sohn hielten sich an den Händen und zogen vorsichtig ihre Bahnen auf dem Eis.
»Ich glaube, ich muss mal eine Pause machen. Kommst du mit?«, keuchte Vanessa nach einer Weile.
Johnny schüttelte den Kopf und suchte das Eis mit den Augen ab. »Da drüben sind Jungs aus meiner Klasse. Kann ich mit ihnen eislaufen?«
Vanessa blickte in die Richtung, in die er zeigte, und sah zwei Jungen, die mehr übers Eis stolperten, als dass sie glitten. »Okay«, sagte sie. »Aber bleib hier in der Nähe.«
Sie fuhr ans Ufer, zog die Schlittschuhe aus, schlüpfte in ihre Stiefel und ging dann zu einer Feuertonne, um sich aufzuwärmen.
Während sie die Hände über die Tonne hielt, beobachtete sie ihren Sohn beim Eislaufen mit seinen Freunden. Sein unbeschwertes Lachen wärmte sie mindestens so sehr wie das Feuer. Sie durfte gar nicht daran denken, dass jemand versucht hatte, ihr ihren Sohn wegzunehmen. Dass jemand Anschuldigungen gegen sie erhoben hatte, die schwer genug wogen, um ein Kind aus seiner Familie zu entfernen.
»Schluss jetzt«, ermahnte sie sich leise. Sie wollte heute Abend nicht an unangenehme Dinge denken. In den letzten Tagen hatte sie sich das Leben mit ihren Grübeleien schon schwer genug gemacht. Zum Glück gesellte sich in dem Moment eine andere Mutter zu ihr.
Vanessa unterhielt sich noch mit der Frau, als sie ihn entdeckte. Die breiten Schultern in der vertrauten, abgewetzten Lederjacke waren unverkennbar. Was wollte er hier? Zu ihrer Bestürzung machte ihr Herz einen Riesensatz, wie immer, wenn sie ihn sah.
Er blieb am Ufer des Sees stehen und blickte sich suchend um. Als er Vanessa entdeckte, kam er zielstrebig auf sie zu.
»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte Vanessa zu der Frau neben ihr und ging ihm entgegen.
»Wir müssen reden«, sagte er ohne Umschweife.
»Ich dachte, wir hätten alles gesagt, was zu sagen war«, erwiderte sie. Wenn ihr Herz bei seinem Anblick doch nur nicht jedes Mal so verrücktspielen würde. Wenn Christian doch nur nicht mehr eine solche Macht über sie hätte.
»Ich habe nicht alles gesagt. Du hast mir ja keine Gelegenheit gegeben, dir die Sache zu erklären.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und schaute aufs Eis. »Es ist kalt hier. Lass uns da rübergehen und reden.« Er zeigte auf eine Feuertonne, an der niemand stand.
Das ist doch lächerlich, dachte sie, während sie ihm folgte. Nichts, was er sagt, wird irgendetwas an dem ändern, was ich schon weiß.
Eine ganze Weile starrte er aufs Eis, wo Johnny mit zwei Freunden herumkurvte. Dann drehte er sich Vanessa zu, und seine graublauen Augen wirkten fast schwarz. »Als ich dir letztens von meinen Eltern erzählt habe, habe ich dir etwas Wichtiges verschwiegen. Es war eine Lüge, als ich sagte, sie hätten mich nicht misshandelt. Mein Vater war nicht nur kalt und distanziert, er war ein erbärmlicher Mistkerl. Wenn er mich mal nicht komplett ignorierte, kritisierte er mich gnadenlos. Das ist seelische Misshandlung.«
»Christian, du musst mir das nicht erzählen«, sagte Vanessa.
»Ich will aber«, insistierte er und trat näher an sie heran, und sie roch sein Eau de Cologne, den Duft, der sie an ihre Liebesnacht erinnerte.
»Du musst das wissen, um verstehen zu können, warum ich diese eine Sache gesagt habe.« Er seufzte. »Ich habe vor langer Zeit beschlossen, keine Kinder zu kriegen, weil ich einfach nicht weiß, wie ein Vater sein muss. Mein Vater hat mir rein gar nichts beigebracht, was mich dazu befähigen würde. Deshalb habe ich dir gesagt, ich könnte mit Kindern nichts anfangen. All die Jahre habe ich nie auch nur in Erwägung gezogen, mit einer Frau auszugehen, die Kinder hat. Bis wir uns begegnet sind.«
Er hielt die Hände übers Feuer und starrte hinein. »Die letzten vier Tage habe ich damit zugebracht, über dich nachzudenken, darüber, wie schön es mit dir ist.« Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen. »Ich habe mich immer davor gefürchtet, Vater zu werden. Ich hatte Angst, in der Rolle zu versagen, weil mein eigener Vater mir kein Vorbild war.«
»Dein Vater hat dir vorgelebt, wie man es nicht macht«, sagte Vanessa sanft.
»Das ist mir in den letzten Tagen klargeworden. Ich weiß, wie sich ein schlechter Vater verhält. Aber vielleicht kann ich lernen, ein guter Vater zu sein.« Er zögerte, und in seinem Blick lag eine große Verletzlichkeit. »Für dich möchte ich es versuchen.«
Er seufzte wieder. »Was ich sagen will, ist Folgendes. Ich will nicht, dass
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