Dunkelmond
siehst du?«, fragte er leise.
»Eine Familie will den Burgvogt sprechen und bittet um Gerechtigkeit. Offenbar ist der Sohn krank. Sieh nur.«
Sinan sah zum Portal hinüber. Die Menge verstellte ihm die Sicht nicht völlig, da seine Größe ihm ermöglichte, über die vielen Köpfe hinweg zu verfolgen, was geschah.
Der Wachtposten hatte eine junge Frau in den Würgegriff genommen. Sie schluchzte leise, während der Hauptmann einer älteren Frau den Arm auf den Rücken gedreht hatte und sie kniend am Boden festhielt. Die ältere Frau jammerte nur noch schwach.Offenbar entzog der Hauptmann ihr die Kraft. Die helle, makellose Haut seines Gesichts war rosa angehaucht.
»Ihr könnt hier nicht einfach herein und den Vogt sprechen!«, sagte der Hauptmann hart. »Und wer weiß, was dein Sohn getan hat, dass er so gestraft wurde!«
»Seht ihn Euch doch an!«, schrie das junge Mädchen und wehrte sich wieder vergeblich gegen den unerbittlichen Griff, der sie festhielt. Sie zeigte auf einen halbwüchsigen Jungen, der mit geschlossenen Augen etwas abseits stand. Tränen liefen ihm die Wangen herunter, er zitterte. Und doch wirkte er seltsam unbeteiligt. Vielleicht lag es daran, dass einer der Wachen ihm die Schneide seines wakun an die Kehle hielt. Etwas am Gesicht des Kindes erinnerte Sinan jedenfalls an das von Berennis, als deren Seele fortgegangen war.
Der Hauptmann blieb stur. »Da könnte ja jeder kommen und sich beschweren. Ihr Kinder Akusus habt nichts anderes im Kopf, als uns Elben Schaden zuzufügen. Verschwindet! Für euch gibt es keine Gerechtigkeit.« Er zerrte die abgemagerte Frau, offenbar die Mutter, am Arm hoch und stieß sie brutal in Richtung des Portals.
Die geschwächte Frau stolperte, fiel auf das grobe Kopfsteinpflaster und blieb weinend liegen. Die Tochter jammerte auf, doch der Soldat ließ sie nicht los, sondern verstärkte seinen Griff sogar noch. Seine Wangen begannen sich zu röten, während das Mädchen in seinem Arm erschöpfter aussah. Der Junge stand weiterhin regungslos da und wehrte sich nicht gegen die Klinge an seiner Kehle. Es war, als würde er gar nicht sehen, was man seiner Mutter und seiner Schwester antat. Einerseits war das merkwürdig, andererseits war Sinan sicher, dass jeder Versuch des Aufbegehrens eine Wunde zur Folge gehabt hätte.
Sinan biss die Zähne zusammen. Ein paar Herzschläge lang kämpfte er mit sich. Diese Ungerechtigkeit war schrecklich, doch er wusste auch, wenn er eingriff, würde ihm der Heermeister wohl kaum am Abend das zweite Sklavenband abnehmen.
Seine Pläne waren noch unausgegoren, aber er würde seine Magie auf jeden Fall benötigen, um irgendetwas zu erreichen.
Er wollte sich gerade angewidert abwenden, als ein frischer Windstoß über den Hof fegte. Der Duft nach verbranntem Yondarharz stieg auf und kitzelte in Sinans Nase.
»Was geht hier vor?«
Der Ruf hallte über den Hof und ließ den aufgeregten Lärm auf der Stelle verstummen.
Sinan schauderte beim Klang der Stimme. Sie löste Angst, aber auch Wut in ihm aus.
Am liebsten wäre er losgestürmt und hätte Tarinds Bruder zur Rede gestellt. Ein gerechter Hausherr wollte er sein? Er verachtete Menschen, wenn sie unehrenhaft und grausam waren, und ließ dergleichen bei seinen eigenen Wachen durchgehen?
Doch Githalad war bereits hinter ihn getreten. »Halt still«, murmelte der Ältere. »Es fällt auch mir schwer, aber tu es dennoch.«
Selbst die Wachtposten waren still geworden, als der Heermeister durch die Menge herantrat, die sich respektvoll geteilt hatte. Die Menschen – Handwerker, Küchenmägde und Pferdeknechte – wichen zurück. Selbst die junge Frau, die schuld an dem Tumult war, senkte im Griff des Soldaten erschrocken den Blick, als sie sah, wer sich ihnen näherte. Schließlich riss sie sich los und verbeugte sich in einem tiefen Knicks.
Sinan hatte den Eindruck, als werde sogar das Schluchzen des Jungen leiser, auch wenn dieser der Einzige war, der sich ansonsten auch weiterhin nicht von der Stelle rührte.
Der Fürst von Norad warf einen langen Blick auf das Mädchen, das erkennbar vor Angst und Kälte zitterte. Ihm war nicht anzusehen, was in ihm vorging. Er wandte sich an den Hauptmann. »Berichte mir.«
Dieser neigte kurz zum Zeichen seiner Ehrerbietung den Kopf. »Mein Fürst, ich bin Randahar«, sagte er. »Diese Leute – es sind Menschen! – wollten zu Bertalan vorgelassen werden.Angeblich um eine Ungerechtigkeit zu melden, die ihnen
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