Dunkle Ernte
drehte sich. Er streckte die Arme aus und versuchte sich an irgendetwas festzuhalten, doch alles, was er spürte, war Eis, und als er schreien wollte, füllte klirrend kaltes Wasser seinen Mund.
Das Nächste, woran er sich erinnerte, waren Hände, die ihn hochzogen, die ihn zum Rand des Eises zerrten, die das Eis vor ihm bersten ließen und ihm den Weg wiesen. Er kroch auf allen vieren zum Ufer, packte mit taub gewordenen Fingern die Grashalme unter dem Schnee, schnappte nach Luft, hustete Wasser aus der Lunge und ließ sich auf den Rücken fallen.
Paul kletterte langsam die Uferböschung hoch und blieb keuchend und in gekrümmter Haltung vor ihm stehen. »Idiot«, sagte er kopfschüttelnd und streckte ihm die Hand entgegen.
Jack fror zu sehr, um zu weinen. Er setzte sich auf und ergriff die Hand seines Bruders. Schweigend gingen sie nach Hause.
Der Husten begann zwei Tage später. Niemand dachte sich etwas dabei. Bis auf eine Erkältung dann und wann war Paul immer kerngesund gewesen. Dann kam das Fieber. Die Eltern steckten ihn ins Bett, weil sie meinten, es sei eine Grippe. Als der Arzt kam, ging es ihm noch schlechter. Er hatte Schmerzen in der Brust, schweißfeuchte Haut und hustete blutigen Schleim. Man brachte ihn ins Krankenhaus. Die Diagnose lautete auf akute Bronchopneumonie. Die Lungenflügel waren bereits voller Flüssigkeit. Antibiotika würden nicht mehr helfen. Jack erinnerte sich, wie seine Eltern am Krankenbett saßen, mit dem Rücken zu ihm. Seine Mutter weinte laut, sein Vater still, nur die breiten Schultern hoben und senkten sich, von Kummer geschüttelt.
Jack machte sich Vorwürfe. Ganz gleich was die anderen sagten, wie sehr sie ihn vom Gegenteil zu überzeugen versuchten, er wusste, dass er schuld war. Er wusste es, aber das Schlimmste war, dass seine Eltern es ebenfalls wussten, auch wenn sie etwas anderes sagten.
Jack überlief ein Schauer.
»Was ist?« Amandas schläfrige Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Offenbar hatte er sie geweckt.
»Nichts, entschuldige, Mands.« Sie murmelte etwas und schlief wieder ein. Der Klang ihrer Stimme war wie lindernder Balsam für ihn, denn sie gehörte zu der realen Welt, die ihn vor seinen bösen Erinnerungen schützte.
Er verdankte Paul sein Leben. Paul, seinem Bruder, seinem Helden. Was wäre wohl aus Paul geworden, wenn er das Erwachsenenalter erreicht hätte?
Jack dachte an die neun Männer auf der Versuchsstation, die gestorben waren. War er ihnen etwas schuldig? So wie er Paul etwas schuldig war? Hatte er seinem Land gegenüber eine Verpflichtung? Man hatte ihm eine Chance geboten, eine Herausforderung, die Gelegenheit, sich zu beweisen, etwas wiedergutzumachen. Er sah auf die Uhr. Ihm blieben noch vierundzwanzig Stunden, um sich zu entscheiden.
Doch bevor er die Entscheidung fällte, musste er mit einem Menschen reden. Dem einzigen Menschen, der ihm helfen konnte, einem Mann, der zwanzig Jahre lang die Karriere beim Militär über alles andere gestellt hatte, auch über seine Familie. Einem Mann, mit dem er seit fast drei Jahren kein Wort gewechselt hatte. Einem Mann, dem er sonst möglichst aus dem Weg ging. Seinem Vater, Archie Hartman.
18
Centurion International, Los Angeles
Harvey Newman verließ in seinem Lexus- SUV das Firmengelände von Centurion und bog in den Wiltshire Boulevard ein. Aus einem klimatisierten Gebäude in ein klimatisiertes Auto mit weichen Ledersitzen und Surround-Sound-Anlage – was für ein Luxus. Seit zwanzig Jahren war er nicht mehr beim Militär, und doch konnte er sich immer noch nicht an das zivile Leben mit all seinen Bequemlichkeiten gewöhnen. An die selbstgefällige Sorglosigkeit, mit der sich die Reichen der Westküste durch ihr behagliches Leben bewegten.
Er wusste, dass er einer von ihnen war, wenn schon nicht im Geist, so wenigstens was das Geld auf seinem Konto betraf. Es war so viel, dass er in den Polo-Club, auf Tennisturniere und die richtigen Cocktailpartys eingeladen wurde. Als ob ihm das etwas bedeuten würde. In dieser Stadt, in der sich alles um die Unterhaltungsindustrie drehte, hatte er sich nie wohlgefühlt. Seine ganze Leidenschaft gehörte Centurion. Die Firma war sein Baby. Er hatte sie aus dem Nichts aufgebaut. Er hatte aus einer zusammengewürfelten Truppe von Söldnern, die westliche Ölinteressen in Westafrika schützen sollten, eine milliardenschwere Rüstungsfirma gemacht, die die Bush-Regierung in Sicherheitsfragen im Irak beriet, und damit mehr Geld verdient, als
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