Dunkle Häfen - Band 1
mehr, wo sie noch die Geduld hernehmen sollte.
Manchmal glaubte sie über Edwards kindisches Benehmen verzweifeln zu müssen. Es war viel schwieriger, ein Kind aufzuziehen, als sie sich gedacht hatte. Selbst jetzt war Edward nicht bereit einzusehen, dass er am Ende doch den Kürzeren ziehen würde. Als sie den Jungen mit sanfter Gewalt und ärgerlichem Zureden endlich gewaschen hatte, waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Den ganzen Tag über blieb sie gereizt, immer nahe daran, endgültig in die Luft zu gehen.
Sie verweilten noch einige Tage in Nassau und die Mannschaft ließ es sich gut gehen. Bess beratschlagte sich mit den anderen Kapitänen, ohne zu einer annehmbaren Lösung zu kommen. Die anderen hatten vorgeschlagen, sich als Kaperschiffe in die britische Flotte einzureihen. Eine königliche Begnadigung würde sie vor dem Galgen retten. Ihre Aufgabe als Kaperschiffe würde darin bestehen, gegnerische Schiffe zu plündern und damit dem Feind Schaden zuzufügen. Aber Bess wollte nichts davon wissen. Es hätte bedeutet, auf ihre Eigenständigkeit und ihre Freiheit zu verzichten.
"Auch wir haben unseren Stolz!" , wetterte sie einmal lautstark. "Sollen wir jetzt vor der englischen Krone zu Kreuze kriechen, wo wir doch so lange ihre Feinde waren!"
Ramis hatte mit alldem wenig zu tun, es fragte sie keiner nach ihrer Meinung, deshalb machte sie sich auch nicht kundig. Niemand zwang sie, die Verantwortung für sich selbst in die Hand zu nehmen, das tat Bess als Kapitän. Wenn es ihr auf dem Schiff zu langweilig wurde, stromerte sie auf der Insel herum und erkundete den tropischen Wald, der ihr fremd und geheimnisvoll erschien. Das beinahe undurchdringliche Dickicht und die Tiergeräusche gaben ihr das Gefühl, in einer ganz anderen Welt zu sein. Edward begleitete sie zuweilen auf diese Wanderungen. Dann saßen sie irgendwo auf einem Baumstamm, an einem guten Aussichtspunkt und schauten in trauter Zweisamkeit auf die Wellen. Am Strand suchten sie Treibgut, wie sie es an der Küste vor Bristol getan hatten. Einmal brachte Edward Ramis einen kleinen Vogel aus Lehm, den er mit seinen Kinderhänden angefertigt hatte. Ramis hätte sich über kein Geschenk mehr freuen können, denn es kam aus ganzem Herzen und sie hatte selten etwas geschenkt bekommen.
Als sie wieder aufbrachen, hatte man auch die letzten verbliebenen Waren verkauft und neue Vorräte ersteigert. Den Männern schien der Abschied von 'ihrer' Insel schwer zufallen. Aber sie hatten bereits kein Geld mehr in der Tasche und mussten nun weiter. Ramis dachte voller Zufriedenheit an ihr eigenes Geld, das immer noch sicher verstaut bei ihren Sachen lag. Sie würde sich etwas kaufen können - etwas Unnötiges , das nicht unmittelbar zum Leben gebraucht wurde. Es war ihr Geld, über das sie frei verfügen konnte, zum ersten Mal. Alles, was sie bisher besessen hatte, war sofort wieder fortgegeben worden.
Eines sonnigen Morgens, als sie das Land lange hinter sich gelassen hatten, sprach Bess Ramis auf eine Angelegenheit an, die ihrer Meinung nach viel zu lange aufgeschoben worden war. Sie waren schließlich Piraten und auch als Schiffsjunge sollte sie gewisse Fertigkeiten besitzen. Da sie inzwischen ihre bisherige Arbeit ohne große Schwierigkeiten verrichten konnte und sich daran gewöhnt hatte, musste sie nun Kämpfen lernen, wenn sie weiterkommen wollte. Mit allen Waffen, die ein Pirat zu beherrschen hatte: nicht nur mit dem Säbel, sondern es galt auch Entermesser oder Enterbeil, die Pistole und die Muskete zu führen. Ach ja, und den Degen zu schwingen, war auch nicht von Nachteil, vor allem im Kampf mit adligen Gegnern.
Kurz gesagt, Ramis sollte lernen, ein ganzes Waffenarsenal zu handhaben. Ein bisschen viel auf einmal, fand sie, vor allem, da sie nicht vorhatte, jemals zu entern. Außerdem konnte kein normaler Mensch das in so kurzer Zeit lernen, wie es Bess vorschwebte. Bess ließ Ramis jedoch gar nicht erst zu Wort kommen, um Einspruch zu erheben. Sie wollte die junge Frau höchstpersönlich unterrichten. Zu allem Übel setzte sie die erste Trainingsstunde schon auf den nächsten Morgen an. Edward drängte darauf, auch mitmachen zu dürfen und Bess gab nach, sie war der Meinung, man könne nie früh genug anfangen. Sie beide sollten nur ihre Arbeit darüber nicht vernachlässigen.
So trat man zeitiger als sonst auf Deck an, mit dunklen Rändern unter den Augen. Es war sehr windig und Ramis hatte deswegen ständig Haare im Gesicht. Bess hatte
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