Dunkle Häfen - Band 1
hatte, als die Weißen sich hier ansiedelten. Eine Schamanin, das klang wie aus einer Abenteuergeschichte. Sicher war die Alte eine Lügnerin.
"Stein böse!" , zischte die Alte und starrte auf ihr Hemd.
Schaudernd langte Ramis unter es und fragte sich, wie die Frau das hatte wissen können. Er war darunter gut verborgen, hatte sie zumindest angenommen.
" Dein Amulett hat starken Zauber. Du hast Glück!"
"Was machst du, alte Frau? Sagst du die Zukunft voraus?"
"Nein, junge Heimatlose, das schlecht. Bringt nur Unheil. Zukunft ändert sich. Ich sehe Seele."
Ramis spürte Bess neben sich.
"Nun, dann zeig uns mal, wie du die Seele liest, alte Frau!"
"Dazu müsst ihr zwei mitkommen! Laut auf der Straße!"
Bess warf Ramis einen spöttischen Blick zu. Die Piratin schien jedoch nichts zu fürchten und wollte sich einen Spaß erlauben. Mit einer unerwartet fließenden Bewegung kam die Alte hoch und trottete gemächlich vor ihnen her, aus der Stadt heraus und über Trampelpfade in die Wildnis. Sie brauchten eine ganze Weile, bis sie eine kleine Hütte aus Holz erreichten. Sie wirkte sehr baufällig und primitiv. Drinnen stank es nicht, wie Ramis erwartet hatte, sondern roch nach frischer Erde und Kräutern. Es war sehr dunkel. Schemenhaft konnte man einige Regale erkennen. Die Alte setzte sich auf den Boden und hieß die Piratinnen, es ihr gleich zu tun. Ramis war nicht wohl bei der Sache. Der Boden war feucht. Die Alte schloss die Augen, doch es wirkte überhaupt nicht melodramatisch, wie es die meisten Wahrsager taten. Sie nahm Bess Hand. Eine Weile blieb die Alte bewegungslos, dann sprach sie plötzlich in einem merkwürdigen Singsang:
"Erde, Piratin, du bist Erde. Dein Feuer ist fast ganz erloschen. Deine Seele ist nun im Gleichgewicht. Du hast erreicht, was du wolltest, du bereust nichts..." Auf einmal war ihr Englisch völlig akzentfrei und korrekt.
Sie öffnete kurz die Augen, um Ramis anzusehen.
"Nun du, Heimatlose."
Zögernd überließ Ramis ihr ihre Hand. Ein rauer Finger fuhr darüber hinweg. Es kitzelte und Ramis musste an Martha denken, die das immer getan hatte. Ramis durchlief ein Beben.
"In dir ist Eis - und Feuer. Das ist schlecht. Feuer verzehrt, doch Eis gefriert. Deine Seele leidet, ist aus dem Gleichgewicht. Wahnsinn frisst dich auf, er lebt in dir. Du wirst dich ihm stellen müssen!"
Die Alte riss die Augen auf. Ramis hatte zu zittern begonnen. Fing das schon wieder an. Dabei war es längst nicht mehr so schlimm und Ramis glaubte, es überwunden zu haben.
"Ist es wirklich so schlimm?" , fragte Ramis beklommen.
Die Schamanin nickte.
"Viele mit Feuer und Kälte wandern in der anderen Welt, ohne je zurückzukommen."
"Sag, Alte ", mischte sich Bess ein. "Warum versuchst du nicht, uns die Zukunft vorauszusagen wie alle anderen und uns das Geld aus der Tasche zu ziehen? Und was soll das mit Erde und Feuer?"
Zorn und Stolz blitzte in den dunklen Augen der Alten auf.
"Ich bin nicht so eine! Oh Ungeduldige, die Zukunft sollte man niemand em vorschreiben! Es bringt Unglück und weil die Menschen an sie glauben, bewahrheitet sie sich! Die Elemente, sie sind Verkörperung der Seele. Erde ist Ruhe und Stärke, Wasser ist Leben und Heilung, Wind ist Verstärkung von Gefühlen, Emotion. Doch Feuer und Eis sind Ungleichgewicht, nicht gut. Das Feuer hat zwei Seiten: Eine, die wärmt und Licht spendet und eine, die zerstört und verbrennt. Eis ist Tod, Kälte. Zu viel davon vernichtet dich selbst. Es gibt auch reines Licht, reine selbstlose Liebe. Wir alle tragen ein Teil dieses Lichtes, mal mehr, mal weniger. Erst wenn wir sterben, bestehen wir nur noch aus diesem Licht. Das Ende des Lebens ist die Reinigung. Doch im Leben wechseln die Bestandteile unserer Seele. Du, Piratin, hast deinen Platz gefunden, du wirst zufrieden von hier gehen. Mehr muss ich dir nicht sagen, du weißt es selbst. Aber du, Mädchen, du suchst und findest nicht. In dir ist Kraft, sonst wäre dein Licht erloschen, doch du kannst dich der Vergangenheit nicht stellen. Du fürchtest sie mehr als alles andere. Doch sie wird dich vernichten, wenn du sie ignorierst. Stell dich ihr und du wirst das Glück fassen können! Übersieh es nicht, wenn es kommt!"
Ramis wollte protestieren. Wenn die Alte andeutete, sie hätte ihre Vergangenheit freiwillig vergessen, dann täuschte sie sich! Sie wollte es wissen!
Die Alte war wieder in sich zusammengesunken.
"Ihr jetzt gehen! Mehr darf ich nicht sagen!"
Bess und Ramis wechselten einen Blick.
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