Dunkle Häfen - Band 1
der rasch in die Kutsche stieg.
"Was ist denn mit ihm los?" , fragte er den Kapitän, der dienstbeflissen neben ihm stand.
"Es tut mir leid, Mylord, das kann niemand sagen. Wir fanden ihn so. Er muss Wochen oder sogar Monate auf See gewesen sein, in einem kleinen Boot. Vielleicht hat die Sonne oder die Einsamkeit..."
"Schweigt!" , unterbrach der Lord ihn ungehalten. "Wollt Ihr mir etwa sagen, mein Sohn sei verrückt geworden?"
"Natürlich nicht, Mylord!" , stammelte der Kapitän.
"Das will ja auch hoffen! Wir sind Euch dennoch zu Dank verpflichtet, Kapitän. Ich werde mich erkenntlich zeigen."
Damit neigte der Lord knapp den Kopf und folgte gereizt seinem Sohn in die Kutsche. Der Kapitän blickte ihnen nach.
James hatte nur sehr kurz Ruhe, bevor allerlei Leute aufkreuzten und ihm ihre Aufwartung machen wollten. Dabei wollte er einfach allein sein. Manchmal gab er vor, noch zu krank zu sein, um jemanden zu empfangen. Anfangs konnte er sich unmöglich an der Öffentlichkeit zeigen, weil Meer und Sonne seine Haut ruiniert hatten. Aber nach seiner Genesung wollte er niemanden sehen.
Doch dann kam eine Einladung von der Königin, die ihn sehen wollte. Es wäre unverzeihlich gewesen, abzusagen und diese einmalige Chance zu vergeben. Wenn man dem Hofe zu lange fernblieb, geriet man in Vergessenheit. Zurzeit hatte James zwar nicht die geringste Lust, dort zu erscheinen, aber er hatte nicht vor, sich für immer in seinem Haus zu verkriechen. Im Spiegel überzeugte er sich noch einmal davon, dass er so vornehm und elegant aussah wie früher. Seine Haut hatte dank guter Pflege ihre aristokratische Blässe einigermaßen wiedergewonnen. Er konnte eigentlich zufrieden sein, nichts schien anders als zuvor. Mit einem Ruck setzte er sich den Hut auf die höfische Perücke. James dunkelblaue Augen drückten mehr Selbstvertrauen aus, als er derzeit verspürte. Mit grimmigem Lächeln begutachtete er sein Antlitz. Männlich, gut aussehend wie eh und je. Es wurde Zeit, über das Geschehene hinwegzukommen, das ihm nun seltsam unwirklich erschien. Außer ihm wusste hier niemand, was passiert war und das würde auch so bleiben. Und um dieses Piratenweib würde er sich auch noch kümmern. Sie würde sich wünschen, nie geboren worden zu sein.
James stieg in die prächtige Kutsche. Königin Anne gab heute Abend einen Empfang. Sie wollte den Heimgekehrten ehren. Seine Verlobte würde auch kommen und sein Vater wollte endlich den Termin für die Hochzeit festsetzen.
Sie ist ein braves, fügsames Mädchen, sagte James sich, keine Hexe .
Wegen des schlechten Wetters war wenig los auf Londons Straßen, deshalb erreichte er den Palast recht schnell. James stieg aus und begab sich in den Palast. Als die Lakaien ihm die Türe zum Festsaal öffneten, holte er noch einmal tief Luft. Es war das übliche bunte Treiben, aber nach den Wochen der Einsamkeit wirkte es auf ihn überzogen und überfüllt wie noch nie. Plötzlich kam ihm das junge Mädchen in den Sinn, das er vor langer Zeit einmal am Hof gesehen hatte und das so verloren gewirkt hatte, als erdrücke ihre Umgebung es. Es schien Jahrhunderte her zu sein. Ihre Augen hatten sich getroffen. Die ihren spiegelten Furcht wider und waren die einer Ertrinkenden, die unweigerlich versinkt. Sie hatten ihn eigenartig berührt. Er hatte sie vergessen, doch nun, da ihn dieses Menschengewühl überwältigte, musste er wieder an sie denken. Er fragte sich, was aus ihr geworden war, nachdem sie so spurlos verschwunden war. Augen wie die ihren würde er überall wiedererkennen. Als er durch den Saal schritt, hatte er seine alte Sicherheit immer noch nicht wiedergewonnen. Er fühlte sich unsicher und mit diesem neuen Gefühl kam er gar nicht zurecht. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie an sich gezweifelt. Er wurde sofort bemerkt. Lady Mary, eine junge Dame, mit der er ein Verhältnis gehabt hatte, rief aus:
"James! Wie herrlich, Euch wiederzusehen!" Sie hängte sich an seinen Arm. "Wie geht es Euch, Liebster?", hauchte sie leise. "Ich habe Euch sooo vermisst..."
Ungeduldig schüttelte er sie ab. Verunsichert durch seinen flackernden Blick blieb sie stehen und starrte ihm nach. Der Mann, der zurückgekommen war, war nicht mehr derselbe, der gegangen war. Doch auch die anderen hatten ihn nun entdeckt. Lords und Ladys, Grafen und Baronessen umringten James, klopften auf seine Schultern und beglückwünschten ihn.
Wozu, verdammt noch mal? dachte er böse. Ich habe mein Schiff verloren und mich
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