Dunkle Häfen - Band 1
zum Gehen, denn wenn er noch blieb, würde er nicht mehr weg können. Vorsichtig beugte er sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Wange. Der altvertraute Geruch nach Salz und Wind und ihr selbst ließ ihn fast wünschen, sie würde aufwachen und ihn aufhalten. Doch er legte ihr einen Brief aufs Kopfkissen und verließ sie.
Oben erwartete ihn William. Seine Wangen glänzten nass. Edward zog ihn in die Arme, ein wenig unbeholf en, da solche Liebesbeweise nicht zu ihm passten.
"Aber du bist doch mein Bruder!" , schluchzte der Junge.
"Und das bleibe ich auch immer, oder? Ich bin mir sicher, eines Tages werden wir uns wiedersehen."
"Wann denn?"
"Wer weiß? Vielleicht bald."
Vielleicht auch nie mehr. Keiner sprach es aus.
"Wohin wirst du gehen?"
William bemühte sich um eine fröhliche Miene, was kläglich scheiterte. Er begleitete Edward zur Reling, wo ein Beiboot im Wasser dümpelte.
"Ich werde mit Kapitän Hornigold fahren, Will. Keine Angst, mir wird dort nichts passieren. Kopf hoch! Ich weiß, wie tapfer du sein kannst. Versuche Mutter zu trösten. Schade, dass ich dich nicht erwachsen werden sehen kann."
Noch einmal drückte er William fest an sich. Der schluchzte laut auf, als ihm endgültig klar wurde, dass sein Bruder gehen würde. Er wollte ihn nie mehr loslassen, aber schließlich löste er sich. Sicher war es schon schwer genug für Edward. Der Pirat kletterte in das Boot.
"Vergiss nicht, du bist und bleibst mein Bruder!" , rief er hoch. "Ich bin sehr stolz auf dich!"
Dann stieß er vom Boot ab und entfernte sich mit kräftigen Ruderschlägen. Bald erreichte er den Strand.
An der Reling der Fate stand noch lange ein kleiner Junge, der jetzt verzweifelt weinte, als Edward es längst nicht mehr sehen und hören konnte.
Edward selbst konnte nicht weinen, er fühlte sich leer, sich seines ganzen Lebens beraubt.
Ramis wachte davon auf, dass sich jemand geräuschvoll die Nase putzte. Sie richtete sich auf und entdeckte William auf einem Stuhl kauern. Er hörte das Rascheln der Bettdecke und wandte ihr sein Gesicht zu. Ramis erschrak, es war vom Weinen ganz verquollen.
"Was ist los?" Ramis konnte schon die eisige Hand spüren, die nach ihrem Herz griff.
Ihr Sohn trat zu ihr. Seine Miene passte nicht zu einem Jungen seines Alters, sie war viel zu verantwortungsbewusst. Allerdings stand im Gegensatz dazu in seinen Augen die Verwirrung.
"Edward ist weg."
Ramis reagierte wie stets auf schlechte Nachrichten: sie verstand nichts. Es gab Dinge, die konnte der menschliche Verstand nicht so schnell verarbeiten und er weigerte sich, sie zu begreifen.
"Was redest du da schon wieder? Was soll mit Edward sein?"
"Er ist weggegangen, Mutter. Weg! Für immer!"
"Rede keinen Unsinn, William!" Ihre Stimme überschlug sich fast. "Hör auf, mich anzulügen!"
"Ich lüge nicht! Glaub mir, er ist gegangen, für immer!"
William schluckte sichtlich und kämpfte gegen die wieder aufsteigenden Tränen an.
Für immer. Ramis sank auf ihr Bett zurück. Diese Worte entwickelten eine bösartige Kraft.
"Das ist doch nicht zu glauben ", murmelte sie leise. "Warum sollte er das tun? Warum? Und wohin will er denn?"
William schwieg zu ihren Fragen, obwohl er die Antworten kannte. Doch sie waren nicht für Ramis bestimmt, soweit hatte William begriffen. Ramis unruhig herum zuckende Hand berührte den Brief auf dem Kissen. Langsam hob sie ihn auf und öffnete ihn mit einer unpassenden Sorgfalt. Als sie Edwards ungelenke Handschrift erkannte, erbleichte sie. Der Brief war voller Fehler und manchmal schwer verständlich, denn Edward war viel zu ungestüm gewesen, um sich lange auf das Lernen zu konzentrieren.
Nur mit einiger Mühe konnte Ramis den Inhalt zusammenstückeln und zu sinnvollen Sätzen verbinden.
Meiner lieben Tante,
Tut mir leid, dass ich gegangen bin. Dein Schmerz ist auch meiner und ich trage auch noch die Schuld daran mit mir. Ich musste es aber tun. Ich bin erwachsen geworden und ich kann nicht länger wie ein Kind bei dir leben. Mach du dir keine Vorwürfe, du hast alles richtig gemacht. Leider kann ich mich nicht von dir verabschieden. Eines Tages kann ich dich vielleicht wieder in die Arme schließen.
Ich liebe dich
Dein Sohn, auf ewig.
Wie betäubt ließ sie das Blatt sinken. Was dort stand, schien ihr unvorstellbar, aber es war wirklich geworden. Schmerz durchflutete sie wie eine Sintflut. Er hatte sie verlassen, war tatsächlich weg. Nach all den Jahren war er gegangen, hatte sie
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