Dunkle Häfen - Band 1
ihres verlorenen Lebensmutes auf eine stoische Art ans Leben. Zuerst wurde sie weder kränker noch gesünder, doch bald begann ganz langsam der Genesungsvorgang. Die Kranke blieb allen ein Rätsel, denn niemand hätte ihr irgendeine Chance zugedacht. Wer die ausgezehrte Gestalt zwischen den Kissen ansah, glaubte, sie sei zerbrochen wie dünnes Glas und dem Tod geweiht. Aber Ramis aß gehorsam, trank ihr Wasser und wurde körperlich wieder gesund, ihr Blick jedoch blieb in der Luft hängen, ohne die Welt um sich herum wahrzunehmen. Keiner konnte verstehen, wie jemand auf so eine Art trauern und gleichzeitig weitermachen konnte. Als Ramis wieder aufstehen konnte, lebte sie noch zurückgezogener als zuvor. Nun war sie wirklich nur noch ein Schatten der einstigen Ramis und viele vergaßen einfach, dass es sie gab. Sie suchte nicht mehr nach dem Licht, sondern hockte apathisch in dunklen Ecken, während ihre Augen starr geradeaus gerichtet waren. Martha kam erneut nicht an ihr Inneres heran und Ramis vereinsamte immer mehr. Von ihrer einstmals so geliebten Katze Bonny wollte sie nichts mehr wissen, seit diese Junge bekommen hatte. Das Mädchen fühlte sich verraten und konnte das Familienglück nicht ertragen. Ramis bewarf ihr Haustier sogar mit Steinen, wenn diese sich ihr näherte. Daraufhin zog sich Bonny beleidigt zurück.
Einmal machte Martha mit Ramis einen kurzen Spaziergang durch den Park, als ihnen eine junge Mutter mit einem Säugling auf dem Arm entgegenkam. Die Frau herzte das Kind und es gluckste daraufhin vergnügt. Ramis blieb abrupt stehen. Sie sah aus, als würde sie gleich weinen, aber keine Träne benetzte ihre Wangen. Dann wirbelte sie mit einem erstickten Geräusch herum und rannte davon. Erst am Abend kehrte sie verdreckt und verschwitzt nach Maple House zurück und war auch dann nicht ansprechbar. Sie hasste diese Frau für ihr Glück. Warum gerade sie? Sie selbst musste in dieser Hölle leben, zwischen den Wänden aus Eis und Feuer, voll Angst und Grauen. Diese Frau hatte das sicher nie erleben müssen, sie durfte an einen Himmel glauben, in den sie einst kommen würde. Ramis war bereits im Leben in der Hölle. Ihre Verbrechen mussten grässlich gewesen sein, um das zu verdienen. Hinter ihrer Gleichgültigkeit, die keine war, fühlte Ramis einen unheilvollen Druck auf sich lasten, als wolle etwas aus ihr ausbrechen. Aus ihrem Gefängnis gab es jedoch keinen Ausweg.
In diesen Zeiten ließ sie lediglich Martha in ihre Nähe. Sie war die einzige, deren Anwesenheit Ramis ertragen konnte. Den anderen brachte sie stumme Feindseligkeit entgegen, für das Mädchen waren sie alle schuld an ihrem Leid. Keiner von ihnen hatte sich auch nur im Mindesten bemüht, ihr zu helfen, im Gegenteil, sie machten alles nur noch schlimmer.
Irgendwann kehrte selbst für sie wieder eine Art Alltag ein, doch sie lebte wie in einem Traum. Die Welt schien so unwirklich und gleichzeitig schrecklich klar. Ihre Seele war zerrissen und abgestorben, ihre Überreste faulten vor sich hin und verbreiteten einen üblen Gestank in ihrem Kopf. Ramis verlor das Bewusstsein ihrer Existenz fast völlig, während sie immer wirrer wurde. Sie war wie eine Ertrinkende, die sich an einem Strohhalm festklammerte und von einer Strömung aufs Meer herausgezogen wurde, sobald ihre Kräfte nachließen. Und der Halm würde bald von selbst reißen.
Die Dienstboten nannten sie ein Tier, das sich in seiner Höhle verkrochen hatte und jeden biss, der die Hand in das dunkle Loch streckte. Die meisten mieden das Mädchen, hatte man doch schon immer geahnt, dass es vom Teufel besessen war. Seine Anfälle und Verrücktheiten waren gewiss nicht normal, Aberglaube hin oder her. Jetzt bewies sich einmal mehr, wie recht man gehabt hatte. Sir Edward sah das allerdings anders. Seit dem Tod des Kindes hatte man nichts von ihm gehört und obwohl alle wussten, dass er daran schuld war, verlor niemand ein Wort darüber.
Das neue Jahr 1698 war bereits angebrochen und wiederum zog der Frühling ins Land, wie um allen zu zeigen, was für ein vergängliches Gut das Leben war und wie schnell es doch vorüberging. Was so viele ängstigte, machte Ramis keine Sorgen. Sie wünschte sich, sie hätte endlich den Mut gehabt, ihre Zeit auf Erden zu verkürzen. Zu viele Frühlinge waren erfüllt von Schmerz gewesen, in ihr wohnte zu deutlich die Erinnerung, als dass das neue Leben sie hätte erfreuen können. Andere Leute im Unglück hofften, wenn sie einst tot wären,
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