Dunkle Häfen - Band 1
auch noch von mir , dass ich dich füttere, mit meinem sauer verdienten Geld! Aber du bist ja die einzige, die ein Scheißleben hat! Deshalb lässt die Dame die anderen die Drecksarbeit erledigen! Ich habe jetzt endgültig genug von dir!"
Lettice stürmte zur Tür und knallte sie lautstark hinter sich zu.
"Ich will dein dämliches Geld gar nicht!" , brüllte Ramis ihr nach. "Erstick doch daran! Wenn es dir keinen Spaß macht, warum hast du dich dann mit Sir Edward -"
Sie brach urplötzlich ab, weil ihr die Wort im Hals stecken blieben. Wütend suchte sie ihre Siebensachen zusammen und stampfte die Treppe hinunter. Niemand hielt sie auf, als sie nach draußen rannte. Blindlings bewegte sie sich durch die Straßen, bis sie sich beruhigt hatte. Sie gelangte zu einem größeren Platz, auf dem gerade ein Markt abgehalten wurde. Hier fühlte sie sich einigermaßen sicher. Als ihre Wut verschwunden war, kehrte auch ihre Angst zurück. Die Geschichte von der toten Prostituierten saß zu tief. Voller nagender Ungewissheit lehnte sie an eine Wand und beobachtete die Menschen. Manche schienen es sehr eilig zu haben, andere dagegen nahmen sich die Zeit zu einem ausgiebigen Schwätzchen. Sie hörte die Rufe der Marktschreier, die ihre Waren priesen. Ein Kind kam an ihr vorüber und es sah glücklich aus, richtig unbeschwert. Als es sie entdeckte, machte es einem weiten Bogen um die merkwürdige Gestalt und drückte sich angewidert an seine Mutter. Eine ungeheure Wut auf dieses Kind erfasste sie, etwas, das sie nicht beherrschen konnte. Am liebsten hätte sie es zu Boden geschlagen.
"Warum weichst du mir aus?" , zischte sie ihm zu und machte ein paar Schritte auf es zu. "Bin ich vielleicht abstoßend? Habe nur Angst vor mir, denn ich bin eine Verrückte!"
Das Kind fing an zu heulen und wollte schnell weg von ihr. Seine Mutter warf Ramis einen bösen Blick zu, in dem aber auch Furcht und Abscheu lagen und zog ihr Kind rasch davon. Ramis blieb stehen, plötzlich überrascht von der Intensität ihres Zorns auf die Menschen und die Gewalttätigkeit, die darin lag. Unsicher fragte sie sich, ob es schon so weit mit ihr gekommen, war, dass die Angst anderer ihr Erleichterung bereitete. Doch nein, das konnte nicht der Fall sein. So jemand war sie nicht.
Trotz dieser beruhigenden Worte gab der Vorfall ihr zu denken, bis sie ihn endlich zu verdrängen schaffte. Sie füllte ihren Kopf stattdessen mit den bunten Bildern des Marktes und stellte sich vor, eine reiche Frau zu sein, die an den Ständen vorbeischlenderte und sich die Waren ansah. Wenn ihr etwas gefiel, kaufte sie es und ließ es in schönes buntes Papier einpacken. Ihr Magen hätte sich in ehrlicher Vorfreude zusammenziehen können, wenn sie die köstlichen Essensdüfte roch, anstatt ihr weitere Pein zu verursachen und die Hoffnungslosigkeit nur noch deutlicher zu machen. Es gelang ihr, einen kleinen Apfel zu stehlen, ohne dass es der Marktfrau auffiel. Hastig schlang sie ihn herunter, auch wenn er kaum sättigte, so war es immerhin etwas. Sie wanderte herum, bis sie jeden Stand mindestens zweimal passiert hatte.
Bei einem weiteren Rundgang fiel ihr ein Mann auf, der ziemlich am Rand unter einem kleinen Unterstand hockte. Auf seinem Schoss lagen Schreibgeräte und neben ihm ein Stoß Papier. Auf einem kleinen Schild vor ihm stand: Hier werden Ihre Briefe geschrieben. Und für Analphabeten, für die es ja eigentlich gedacht war, war darunter ein Bild, das den Satz erklärte. Im Augenblick hatte der Schreiber nichts zu tun, er döste vor sich hin und wartete auf Kundschaft. Ramis ließ sich in der Nähe nieder und beobachtete den Stand. Das tat sie einige Stunden lang und zog den Schluss, dass der Mann gar nicht so wenig verdiente, weil erstaunlich viele Leute sich etwas schreiben lassen wollten. Einmal, während sie am Stand herumlungerte, fing sie an zu kichern, als eine feine Dame in einen Hundehaufen trat. Erschrocken zog diese ihren zierlichen Schuh heraus und betrachtete ihn angeekelt. Dann gewahrte sie Ramis, ein lachendes Häufchen Respektlosigkeit. Ihr Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse. Sie murmelte eine Beleidigung, spazierte aber möglichst würdevoll von dannen, anstatt sich näher mit Ramis zu befassen. Die junge Frau verschluckte sich und bekam einen Hustenanfall. Als sie sich davon erholt hatte, wurde sie wieder ernst.
Gegen Abend, als der Markt sich allmählich auflöste, stand ihr Entschluss fest. Nur wusste sie nicht, wo sie jetzt hingehen
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