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Dunkle Häfen - Band 1

Dunkle Häfen - Band 1

Titel: Dunkle Häfen - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elin Hirvi
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versunken."
    Mit dem Gespür, das Kinder manchmal haben, bemerkte er, dass sie log.
    "Du bist so blass ", bohrte er weiter. "Mir ist nur ein bisschen schlecht geworden, das ist alles."
    Der Junge musterte sie skeptisch. Er glaubte ihr nicht. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf ihre Hand, als das Mondlicht sich daran reflektierte und einen Blitz aussandte. Er hatte den Ring entdeckt.
    "Tante!" , rief er verzückt aus. "Ist das ein echter Stein? Woher hast du ihn?"
    Ramis warf automatisch einen Blick auf den Ring, der sie so völlig gegen ihren Willen in den Bann zog.
    "Ja, er ist echt ", seufzte sie. "Und ich habe ihn gefunden. Im Haus."
    "Da drüben? Toll, dann schauen wir doch, ob wir noch mehr finden! Das wollte ich schon lange!"
    "Nein!" , wehrte sie heftig ab. "Das geht nicht! Komm, gehen wir lieber!"
    "Aber warum denn nicht?" Edward war enttäuscht. "Du bist langweilig."
    Das Haus hatte sein Interesse geweckt.
    "Das Haus ist mir unheimlich ", erwiderte Ramis. "Dort drinnen geht etwas vor sich, das ich nicht verstehe. Der Tod wohnt jetzt da, denn darin ist jemand gestorben."
    Sie dachte an die alte Dame, deren Leben eine solche Tragödie gewesen sein musste. Sie hatte ihr dasselbe prophezeit. Ein Teil davon hatte sich schon bewahrheitet, denn Ramis hatte so viel Unheil erlebt, dass es reichte, ihr ganzes Leben in seinem Schatten zu verbringen. Was sollte denn noch kommen? Aber um nichts in der Welt würde sie ein zweites Mal ins Haus gehen. Die Tote umgab ein schreckliches Geheimnis, zu weit in der Vergangenheit verwurzelt, um es zu verstehen. Es hatte sie dazu gebracht, ganz allein in einem verfallenen Haus zu leben, nur in Gesellschaft einer ebenso alten Dienerin, die längst tot oder nur noch ein Schatten war. Ganz allein mit dem Wunsch, endlich zu sterben und doch noch leben zu wollen, nur um die Sinnlosigkeit des Tuns nicht weiter zu verstärken. Ramis schauderte wieder. Vielleicht lebte die Dienerin sogar noch und irrte durch die Korridore oder saß in einem der vielen Zimmern voller Staub und Trauer, wie ihre Herrin ständig in der Vergangenheit. Ramis Gedanken waren mal wieder abgeschweift, ohne es zu wollen und sie vergaß für diesen Moment alles um sie herum.
    Edward war nicht das Kind, das diese Gelegenheit unverstrichen ließ. Er hatte sich jetzt in den Kopf gesetzt, in dieses Haus zu gehen. Die unvorstellbaren Reichtümer, die er darin erwartete, die einfach auf dem Boden lagen, wo man sie pflücken konnte wie Äpfel, ließen ihn jeden Gehorsam vergessen. Er rannte flink los und hielt auf die offene Verandatür zu. Ramis schrie entsetzt auf und setzte hinterher.
    "Edward! Bleib auf der Stelle stehen!" Ihre Stimme überschlug sich vor Panik.
    Wie sie bereits bei ihrer ersten Begegnung festgestellt hatte, war der Junge verdammt schnell. Mit seinem Vorsprung erreichte er lange vor ihr den Eingang und verschwand in seinem Dunkel.
    "Oh verflucht ", flüsterte sie.
    An der Türschwelle verharrte sie. Alles an ihr sträubte sich dagegen, dieses Haus noch einmal zu betreten. Eine unsichtbare Mauer schien von ihrem Selbst auszugehen. Aber sie überwand sich und ihre uralten Ängste, denn ihre Sorge um Edward überwog. Sie würde ihn niemals im Stich lassen. Sobald sie die muffige Dunkelheit betrat, spürte sie, wie sehr sich hier unten alles verändert hatte. An den Wänden tanzten Schatten wie Geister. Ramis konnte ihre Hände an sich spüren und musste mit aller Kraft dagegen ankämpfen, nicht zu fliehen. Sie klammerte sich an ihrer Aufgabe fest wie an einen Rettungsring. Instinktiv erkannte sie, dass Edward sich nach oben gewandt hatte. Von dort hallte ein schier unwiderstehlicher Ruf herunter. Ramis bildete sich ein, Dunkelheit die Stufen herunter quellen zu sehen. Scharf wies sie sich zurecht und tat es nur als Sinnestäuschung ab. Um jeden Preis musste die Grenze zwischen Wirklichkeit und dem Reich der Geister erhalten bleiben, sonst würde sie sich verlieren. Ramis musste gegen alles Übersinnliche kämpfen, an dessen Existenz sie je geglaubt hatte. Sie, für die Geister und Teufel immer Realität gewesen waren, musste diesen Glauben überwinden. Die Dunkelheit, immer eine ihrer größten Ängste, stürmte auf sie ein wie eine Flut. Wenn sie jetzt aufgab, würde sie den Verstand verlieren.
    "Edward!" , flüsterte sie ins Dunkel wie eine Beschwörung.
    Hier in diesem Haus schien die Zeit keine Bedeutung mehr zu haben. Es erschien Ramis wie eine Ewigkeit, die sie brauchte, die Treppe hinaufzukommen.

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