Dunkle Häfen - Band 2
Unschuld galt es zu beweisen? Trotzdem stand sie auf. Ihre Gelenke schien eingerostet zu sein, ihre Knochen bereits vermodert.
"Holt den Marquis her."
Aber dann fiel ihr ein, dass der ebenfalls verdächtig sein könnte. Er hatte als ihr Geliebter gegolten. Was für ein Motiv für einen Mord an einem ungeliebten Ehemann! Wenn sie ihn nicht schon verhaftet hatten, würden sie ihn nicht zu ihr durchlassen.
"Schicke jemanden zum Marquis, der ihn warnen soll! Und noch etwas, Henriette..."
Es wurde immer schwerer, zu denken. Die Schlinge um ihren Hals zog sich zu. Und es war eine vorbereitete Schlinge gewesen, sie spürte es. Das war das Komplott, das sie nicht hatte sehen wollen und doch befürchtet hatte. Ihre Feinde hatten Guillaume umgebracht. Sie schloss ihre Finger um ihr Amulett.
Gib mir Kraft! beschwor sie.
"Gib Lord Fayford Bescheid. Er soll kommen."
Der Entschluss fiel ihr unsagbar schwer. Aber er war ihre letzte Hoffnung. Er hatte gesagt, er würde sie lieben. Sie nahm sich genügend Zeit, sich in ihren Schleier zu wickeln und verließ schweren Herzens ihren Mann.
"Verzeih mir ", sagte sie ihm zum Abschied. "Ich muss mich nun retten. Aber deine Mörder werden büßen, auch wenn es das letzte ist, was ich vollbringe!"
Das Haus schien wie ausgestorben, niemand ließ sich blicken. Nur die Wachen sta nden um das Haus, das zeigte Ramis ein Blick aus dem Fenster. In ihrem Zimmer wartete sie. Es zermürbte sie. Ob sie ihn überhaupt hereinließen? Sie ließen, wie sie bald merkte, denn es klopfte an der Tür und Henriette in Begleitung Fayfords trat ein. Heute tat Ramis Herz keinen wilden Sprung. Erneut vollkommen in tristes Schwarz gehüllt, erwartete sie ihn. Er ging zu der düsteren Gestalt und winkte Henriette hinaus, die ihre Herrin sichtlich ungern verließ.
"Ich habe von allem gehört ", sagte er leise. "Sie werden Anklage gegen Euch erheben. Es ist eine Verschwörung gegen Euch im Gange."
Wen interessierte das noch? Sie hatten sowieso schon alles zerstört.
"Es gibt viel mehr, die Euch gehasst haben, als Ihr Euch vorstellen könnt."
Sie bewegte sich und hob den Blick.
"Die vom Hof haben ihn ermordet!" , zischte sie.
"Vermutlich. Es sah jedenfalls nicht nach einem Raubüberfall aus. Alle seine Wertsachen waren noch da, sagt die Polizei. Man wird Euch vorwerfen, ihr hättet ihn mit Eurem Liebhaber ermordet, um diesen heiraten zu können."
Natürlich. Würde jemand eine so durchsichtige Tat begehen? Doch es hieß, dass nicht nur sie in Gefahr war.
"Sie wissen, wie sie den König gegen Euch wenden können."
"Aber Euch wird niemand angreifen. Ihr wart zu vorsichtig."
Bitterkeit, wo man auch hinsah. Er lachte auf, allerdings ohne Freude.
"Und trotzdem wollt Ihr, dass ich Euch helfe? Mich in diese Gefahr bringe?"
"Ihr habt behauptet, mich zu lieben. Wenn Ihr mir nicht helft, wird bald nichts mehr übrig sein, was man lieben könnte."
"Ja, Mylady, ich werde Euch helfen, so selbstlos, wie ich es nie war. Doch unter einer Bedingung: Zeigt mir Euer Gesicht. Das ist nur fair, in Anbetracht der Gefahr."
Erschrocken wickelte sie den Schleier fester um sich.
"Das geht nicht!" , krächzte sie.
"Warum nicht? Ich glaube Euch nicht mehr, dass Ihr nur ein hässliches Gesicht versteckt. Das passt nicht zu Euch. Nein, Ihr versteckt viel mehr. Aber Ihr müsst Euch nicht fürchten. Wenn Ihr frei seid, nehme ich Euch mit nach England. Dort wird Euch niemand gefährlich werden, weil Ihr unter meinem Schutz steht."
"Ich glaube nicht, dass Ihr mein Gesicht sehen wollt. Lasst mir den Schleier und ich verschwinde für immer aus Eurem Leben."
"Dafür ist es zu spät, Mylady. Nehmt ihn bitte ab. Vertraut Ihr mir so wenig?"
Sie zögerte. Nun würde sich beweisen, ob er die Wahrheit gesprochen hatte. Und ob das Gefühl stärker war als der Jahrzehnte alte Hass.
"Ihr habt es nicht anders gewollt. All die Leute, die ich einst als dumm bezeichnete, sind klug im Gegensatz zu mir, die ich Euch liebe. Wenn Ihr es aber unbedingt wissen wollt - Ihr seid es, vor dem ich mich versteckt habe."
Sie ließ den Schleier fallen.
"Liebe und Hass liegen oft dichter beieinander, als wir uns das wünschen, was?"
Als erstes fielen ihm die blonde n Haare auf, die völlig wüst abgeschnitten waren. Er erkannte sie nicht sofort. Auch sie war in den Jahren gealtert und er war nicht im Geringsten auf sie gefasst gewesen - oder doch? Ein verhärmtes Gesicht, verquollene Augen... doch deren Färbung ließ keinen Zweifel, sie hatten nichts
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