Dunkle Häfen - Band 2
Vergessens. Und darunter der Name: Lianna, 1683-1690 . Aber ich bin doch gar nicht tot! dachte sie entsetzt. Ein alter Mann hockte unweit auf einem Stein. Sie schrie ihn an:
"Wer liegt da? Das muss ein Irrtum sein! Seht mich an, ich lebe! Ich bin doch diese Lianna!"
"Nein ", antwortete er. " Ihr irrt. Das Mädchen, das dort ruht, starb mit seinen Eltern bei einem Überfall. Vor Ewigkeiten. Heute sind sie schon lange vergessen, wie alle hier. Auch dein Name wird bald vergessen sein."
Wie aus dem Nichts kam der Nebel, der alles verhüllte. Ziellos irrte sie durch das Weiß. Sie hatte den Weg verloren.
Mit dieser Angst wachte Ramis auf. Sie setzt sich hin und zog die Knie an. Wohl oder übel hatte die Gefangene sich mit dem Warten abgefunden. Seltsamerweise fühlte sie sich besser, obwohl sie in der Hand ihres ärgsten Feindes war. Oder vielleicht sogar deswegen? Anscheinend war sie noch immer nicht klüger geworden. Sie rückte ihr Kleid zurecht, das inzwischen schrecklich klebte und voller Falten war, bevor sie aufstand. Draußen war es jetzt Tag und Licht fiel durch die kleine Luke mit der verschließbaren Klappe herein. Ramis dachte an ihr Tagebuch, das sie in ihrer Rocktasche trug. Jetzt hätte sie die Zeit, es noch einmal zu lesen, den letzten Abschnitt ihres Lebens noch einmal zu durchleben. Aber sie fürchtete die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, diese Erinnerungen an glückliche, vergangene Momente, dieses Entlarven der durchschaubaren Lügen. Sie sollte es verbrennen, doch das konnte sie nicht. Es war ihr Leben. Vielleicht würde man es zusammen mit ihr verbrennen, wie Fayford es ihr angedroht hatte. Wie lächerlich, dachte Ramis, heute glaubt doch keiner mehr an Hexen!
Unruhig tigerte Ramis durchs Zimmer. Ihre Beine waren schwach von der langen Zeit, die sie nicht benutzt worden waren. Als Ramis jedoch die Tür passierte, schwang diese auf. Sie konnte ihr gerade noch entgehen, indem sie zurücksprang. Sie erwartete, den Riesen zu sehen, doch es war Fayford. Ein dünnes Lächeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er hereinkam und die Tür schloss. Seine Augen waren im fahlen Licht fast schwarz. Völlig fehl am Platz überlegte Ramis, wie sie beide wohl aussehen mochten: Ein noch mit nahezu vierzig verwegen aussehender Mann, elegant, mit edlen Gesichtszügen. Sie, ebenso alt, doch verzaust und seit Tagen in das gleiche schwarze Kleid gezwängt, eine gestürzte Hochstaplerin, das Gesicht verhärmt. Sie passten nicht zueinander. Nur eine Kette von höchst unglücklichen Ereignissen hatte sie so grausam aneinander gekettet. Mit einer gewissen Häme fiel ihr ein, dass er auch jetzt nichts von William wusste. Und sie würde das Geheimnis mit ins Grab nehmen. Außer wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass sich Vater und Sohn begegneten, denn dann könnte er sein jüngeres Abbild erkennen.
"Ihr wollt keine Erklärung?"
Bedächtig, um ihn nicht ansehen zu müssen, ordnete sie ihr Haar. Ihr jagten schon wieder Schauer durch den Körper und ihr war heiß geworden.
"Es würde ja doch nichts nützen. Ihr habt mir sicher kein angenehmes Ende zugedacht."
Er lachte sein gemeines Lachen.
"Wisst Ihr, es war ein eher spontaner Entschluss, Euch zu entführen. Wer weiß, vielleicht fand ich sogar, dass es nicht recht wäre, wenn Ihr in einem fremden Land für etwas sterben müsst, was Ihr gar nicht getan habt, ausnahmsweise."
Ramis enthielt sich der Vorwürfe, die ihr auf der Zunge lagen. Sie hätten etwas vorausgesetzt, was nie gewesen war.
"Wart Ihr an dem Komplott beteiligt?"
"Ich? Nein. Ich hatte keinen Grund dazu. Die Wahrheit habe ich ja erst später erfahren. Auch meine Aussage vor Gericht war rein spontan. Ich hatte nicht erwartet, mich für irgendetwas verteidigen zu müssen. Aber Ihr hattet schon immer die Gabe, die Frauen, die mir gehörten, an Euch zu binden."
"Den Hohn könnt Ihr Euch sparen. Ich denke, Adélaide hat nur erkannt, was Ihr für ein Lump seid."
"Tatsächlich? Da bin ich mir nicht so sicher. Aber sie wollte sich wohl wirklich an mir rächen. Die Rache treibt uns zu einigem, was? Auf meine habe ich achtzehn Jahre warten müssen."
Achtzehn Jahre? War es schon so lange her?
"Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so kommen würde. Eigentlich sollte ich froh sein, auch wenn - Welch ein Witz, dass ausgerechnet Ihr mir die Wahrheit erzählt habt!"
"Ihr trampelt auf allem herum, was einen anderen verletzen könnte! Nein, ich irre mich, Ihr stecht voller
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