Dunkle Häfen - Band 2
Versailles, über dieser kleinen Welt, die sich merkwürdig abgeschottet zu haben scheint. Manchmal habe ich das Gefühl, darin ersticken zu müssen, es ist, als halte jemand krampfhaft an einer erstarrten, geliebten Leiche fest, obwohl ein wenig weiter das Leben sprudelt.
Ab und zu begegne ich dem jungen Louis, dem Thronfolger. Er ist der Urenkel des Königs und noch nicht mal fünf Jahre alt. Sowohl sein Großvater als auch sein Vater sind verfrüht verstorben. Einmal traf ich ihn auf dem Flur. Das Kind war allein, ich vermutete, er war auf eigene Faust losgezogen, sonst konnte ich mir nicht erklären, weshalb der Thronfolger ohne Aufsicht und Begleitung herumstreifte. Er blieb stehen, als er mich entdeckte und blickte schüchtern zu mir herüber. Vielleicht fühlte er sich nun doch einsam ohne seine Gouvernante. Ich lächelte ihn freundlich an, da schien er Zutrauen zu fassen und kam zu mir her.
"Wie heißt Ihr?" Louis stellte diese Frage in so einem formellen Ton, dass ich grinsen musste.
"Ich bin Anne ", sagte ich.
"Und ich bin Louis, aber alle sagen jetzt Monseigneur zu mir", stellte er sich korrekt vor, was angesichts seines Alter und seiner dünnen Stimme umso merkwürdiger wirkte.
'Monseigneur' ist der Titel des Kronprinzen.
"Ich habe Euch hie r noch nie gesehen, Madame Anne", fuhr er nach einer Weile fort.
"Das ist kein Wunder, Monseigneur. Ihr könnt ja nicht jeden kennen, oder? Aber ich bin auch noch nicht so lange hier."
"Ihr sprecht ja komisch!" , kicherte der Prinz.
"Ich komme aus England."
"Und sprechen da alle so komisch wie Ihr?"
"Ich denke, viele können besser Französisch als ich. Wisst Ihr, ich habe eine andere Sprache gelernt."
Durch das Gespräch wurde der Junge zusehends mutiger. Ernst sah er zu mir hoch.
"Wollt Ihr mit mir kommen?" , fragte er. "Ich gehe ein wenig spazieren."
Ob dieses Kind begreifen konnte, dass es bald König sein würde? Ich fand es schlimm, einem Kind diese Bürde aufzuerlegen. Andererseits, was sollte man tun, wenn sonst alle unumstrittenen Thronanwärter tot waren? Vertraulich nahm Louis meine Hand und zog mich mit.
"Wo wollt Ihr denn hin?" , erkundigte ich mich.
"Ich weiß noch nicht."
"Wie wäre es, wenn wir in die Gärten gingen?"
Die Unterhaltung kam mir irgendwie irreal vor, redete ich doch mit einem Prinzen, der in meinen Augen vielmehr ein kleiner Junge war und ich konnte ihn nicht anders behandeln. Als wir an einem Fenster vorbeikamen, regnete es draußen in Strömen und mir kam in den Sinn, was für eine dumme Idee es eigentlich war, den Kronprinzen in die Gärten zu verschleppen. Ich sollte ihn schnellstens zu seinen Aufpassern zurückbringen.
"Schaut, Monseigneur, wir können nicht raus. Es regnet."
Louis war schwer enttäuscht und deshalb brachte ich es nicht übers Herz, ihn schon zurückzubringen. So überlegte ich, was ihn interessieren könnte.
"Wollt Ihr vielleicht wissen, wie man Seemannsknoten macht?" , schlug ich schließlich mangels einer besseren Idee vor.
Er nickte.
Ich nahm ihn mit auf mein Zimmer und verwendete einen Gürtel, um ihm die Knoten zu demonstrieren. Er saß die ganze Zeit still da und sah mir zu. Mit einem schmerzhaften Ziehen im Magen wurde ich an Edward und William erinnert.
Wir wurden letztlich von Adélaide unterbrochen, die zur Tür hereingeplatzt kam. Ihre Augen wurden groß, als sie das Kind erblickte und noch größer, als sie es als den Kronprinzen erkannte, der neben mir auf der Liege saß und sich inzwischen müde und mit der Zutraulichkeit eines Kindes an mich gelehnt hatte.
"Monseigneur, was tut Ihr hier?", stieß sie entgeistert hervor.
Ich konnte nicht anders, ich musste über ihre Miene lachen. Sofort wandte sie sich an mich.
"Und Ihr, Anne, habt Ihr denn den Verstand verloren?"
"Regt Euch doch nicht so auf. Ich habe ihn ja nicht entführt", besänftigte ich sie mit Unschuldsmiene, die so echt gewirkt haben muss, dass Adélaide mich nun für völlig minderbemittelt hielt.
"Ihr seid wirklich verrückt! Inzwischen wird ganz Versailles auf den Beinen sein und tatsächlich glauben, dass der Prinz entführt wurde!"
Ich muss zugeben, dass ich eine hämische Freude bei dem Gedanken an die aufgeregt herumflatternden Verantwortlichen empfand. An die weitreichenden Folgen freilich hatte ich nicht so sehr gedacht.
"Na, dann müs sen wir Euch wohl zurückbringen", meinte ich zu Louis, der mich enttäuscht musterte.
"Aber es hat mir Spaß gemacht!"
Dennoch fügte er sich und ließ sich von uns
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