Dunkle Häfen - Band 2
schadenfroher Neugier. Aber es ist schrecklich, Euer Gesicht nicht sehen zu können."
Ramis wurde wachsam.
"Er stört mich nicht. Ich habe mich an ihn gewöhnt."
"Warum wollt Ihr nicht? Habt Ihr kein Vertrauen zu mir?"
Ramis sollte eigentlich zu niemandem Vertrauen haben, dazu war die Sache viel zu gefährlich. Doch manchmal musste man sich um jeden Preis jemandem anvertrauen, um nicht zu platzen.
"Na gut, ich lege also mein Leben in Eure Hand. Bitte vergesst das niemals!"
Verwirrt starrte Adélaide sie an. Sie atmete unwillkürlich schneller, als Ramis ihren Schleier entwirrte und ihn langsam abnahm.
"Aber... Ihr... Euer Gesicht ist unversehrt!" Adélaide sprang auf. "Was hat das zu bedeuten?"
"Psst. Eure Diener dürfen nichts mitbekommen. Ich kann Euch leider nichts Weiteres sagen. Nur das dieser Stoff mein Leben schützt." Ramis legte ihn rasch wieder an.
"Vor was wollt Ihr Euch schützen?"
Der Unglauben in Adélaides Augen brachte sie zu einem bitteren Lächeln.
"Ihr müsst mich inzwischen wirklich für verrückt halten. Aber ich kann Euch versichern, dass ich in dieser Welt noch immer Feinde habe, die meinen Tod wollen."
"Wer?"
"Bitte lasst es damit gut sein. Manches sollte nicht laut ausgesprochen werden. Kann ich Euch vertrauen?"
"Vollkommen. Ich mag ja eine schlecht e Freundin sein, doch Ihr könnt mir immer vertrauen."
"Danke, Adélaide. Es tut gut, Euch auf meiner Seite zu wissen. Aber nun sollte ich gehen. Euer Mann wird sich ärgern, wenn er mich hier sieht."
"Und wenn schon! Dieser alte Sack kann mir viel nehmen, aber nicht meine Freundin!"
Sie verabschiedeten sich herzlich, dann trat Ramis den Heimweg an. Sie zwang sich, ganz gemütlich zwischen den Leuten hindurchzugehen und ihre Ängste gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Leute wichen ihr unsicher aus. Woher dann diese Furcht, zerquetscht zu werden? Sie wollten gar nichts von ihr, wollten ihr noch nicht einmal zu nahe kommen. Es war Zeit, sich diesen grundlosen Ängsten zu stellen. Dennoch bereute Ramis es, nicht die Kutsche genommen zu haben. Es war sehr viel leichter, über den Köpfen des einfachen Volkes zu sitzen. Als sie endlich ankam, war sie völlig durchgeschwitzt. Im Haus hatte man sich bereits gewundert, wo sie hingegangen war. Henriette hatte zwar zu sagen gewusst, dass ihre Herrin Adélaide besuchen wollte, aber die Kutsche war doch da gewesen... Guillaume seufzte über Ramis Eigenheiten, als sie erklärte, dass sie zu Fuß unterwegs gewesen war.
"Warum habt Ihr nicht die Kutsche genommen?"
Darauf fand Ramis keine einleuchtende Antwort mehr.
Tagebuch
Juli 1720, Paris
Ich habe dieses Buch wieder unter meinem Schrank gefunden. Es war ganz verstaubt. Seit Edwards Tod habe ich es nicht mehr in den Händen gehabt. Heißt das jetzt, dass ich seinen Tod nüchtern betrachten kann? Nein, noch immer verkrampft sich alles, sobald ich mich näher damit beschäftige. Doch ich habe mich dazu durchringen können, meine alten Tagebucheinträge zu lesen. War das wirklich ich? Ja, kann ich mir antworten. Und ich bin es immer noch. Zum Glück fand ich wenige Stellen, an denen ich meine Sehnsucht nach meinen Kindern erwähne, es schmerzt auch so schon genug.
Ich muss sagen, dass mein Leben aus seinem Rhythmus geworfen wurde. In mir herrscht eine Unruhe, die mich kaum stillhalten lässt. Guillaume sagt, dass er meine Zappelei und mein nervöses Umhergehen kaum noch ertragen kann. Ich verstehe nicht, was mit mir los ist. Oder doch?
Zum Teil liegt das gewiss an Fayford, der mir zwar seit diesem ersten Abend nicht mehr in die Quere gekommen ist, aber genau das macht mich besorgt. Dabei beachtet er mich überhaupt nicht mehr... Ich könnte genauso gut Luft sein und wenn ich nicht dennoch das Gefühl hätte, dass er mich nicht so völlig übersieht, wie es den Anschein erweckt, dann könnte ich beruhigt sein. Trotzdem denke ich allmählich, dass ich mir nur etwas einbilde. Warum sollte er auch ein besonderes Interesse für mich haben?
Ich besuche zurzeit öfters Feste, obwohl ich mich jedes Mal langweile. Henriette hat mich überredet, mir eine neue Perücke zu kaufen. Die alte war bereits ziemlich schäbig. Du bist schon eine verwahrloste Kreatur, Herzogin de Sourges. Was werden sie einst ihren Kindern über ‚la folle‘ erzählen, wenn du tot bist?
August 1720, Paris
Ich kann es kaum glauben. Sind nun plötzlich alle außer mir verrückt geworden? Ich weiß nicht, wie ich es mir selbst erklären soll. Vielleicht fange
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