Dunkle Herzen
Ernie hat Ihnen gesagt, daß er und – daß wir – ach du lieber Gott!«
»Er hat es mir nicht gesagt.« Joleen rieb ihre klammen Hände aneinander. »Er hat es aufgeschrieben. Ich habe kürzlich sein Zimmer saubergemacht.« Mit zusammengepreßten Lippen wandte sie sich ab. Sie war keine besonders begabte Lügnerin. »Dabei fand ich einige Notizen, die er geschrieben hat. Über Sie.«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe nie …« Clare fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Wie sollte sie sich nur ausdrücken? »Mir ist klar, daß Sie als Ernies Mutter eher ihm Glauben schenken werden als mir, besonders da Sie mich gar nicht kennen. Aber ich schwöre Ihnen, zwischen mir und Ihrem Sohn gab es niemals eine körperliche Beziehung.«
»Ich glaube Ihnen.« Joleen blickte auf die ruhelosen Hände in ihrem Schoß hinab. Sie schien die Kontrolle über sie verloren zu haben – genau wie sie die Kontrolle über
ihren Sohn verloren hatte. »Eigentlich war es mir von vorneherein klar. Ich habe mir zwar eingeredet, ich wollte nur zu Ihnen gehen, um mein Kind zu beschützen, aber …« Mit feuchten Augen blickte sie zu Clare hoch, eine geschlagene Frau. »Miss Kimball …«
»Clare«, erwiderte diese schwach. »Nennen Sie mich Clare.«
»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen.«
»Nicht doch.« Clare rieb sich die schmerzenden Schläfen. »Dazu besteht kein Anlaß. Wenn ich mir vorstelle, wie Ihnen zumute gewesen sein muß, kann ich mich nur wundern, daß Sie nicht die Tür eingeschlagen und mir die Augen ausgekratzt haben.«
»Bei Auseinandersetzungen ziehe ich meistens den kürzeren.« Joleen wischte sich über die tränenfeuchten Wangen. »Und als Mutter habe ich auch versagt.«
»Sagen Sie doch so was nicht.« Da ihr nichts Besseres einfiel, tätschelte Clare hilflos Joleens Schulter. »Ernie befindet sich lediglich in einer schwierigen Phase.«
»Kann ich eine von Ihren Zigaretten haben? Ich habe das Rauchen zwar aufgegeben, aber …«
»Aber sicher.« Clare nahm eine Zigarette und zündete sie selber an. Nach dem ersten Zug schüttelte Joleen sich leicht.
»Die erste seit fünf Jahren.« Gierig zog sie wieder daran. »Clare, ich habe Ernies Zimmer nicht saubergemacht, ich habe es durchsucht.« Sie schloß die Augen. Das Nikotin benebelte sie ein bißchen, aber die Knoten in ihrem Magen lösten sich langsam auf. »Dabei habe ich mir geschworen, niemals die Privatsphäre meines Kindes zu verletzen, so wie meine Mutter es mit mir gemacht hat. Regelmäßig hat sie meine Schränke durchwühlt, sogar unter die Matratze geschaut, weil sie es für ihre Pflicht hielt, darauf zu achten, daß ich nicht in Schwierigkeiten gerate. Damals habe ich mir geschworen, daß ich, wenn ich einmal selbst ein Kind habe, ihm vertraue und ihm seinen Freiraum lasse. Trotzdem bin ich in der letzten Woche zweimal in Ernies Zimmer geschlichen und habe
in seinen Sachen herumgeschnüffelt, weil ich nach Drogen suchte.«
»Oh.«
»Ich fand nichts in dieser Richtung.« Joleen rauchte mit langen, gierigen Zügen. »Dafür aber andere Dinge.« Dinge, über die sie nicht sprechen konnte. »Was er da über Sie geschrieben hat … nun, ich finde, Sie haben ein Recht, es zu erfahren. Es ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.«
Eine kalte Hand griff nach Clares Kehle. »Ich nehme an, für einen Jungen in Ernies Alter ist es nicht ungewöhnlich, wenn er sexuelle Fantasien über eine ältere Frau entwickelt oder sich sogar auf diese Person fixiert.«
»Schon möglich. Vermutlich wären Sie lange nicht so verständnisvoll, wenn Sie das Geschmier gelesen hätten.«
»Joleen, haben Sie schon einmal daran gedacht, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen?«
»Ja. Ich werde heute abend mit Will, meinem Mann, sprechen. Wenn wir einen geeigneten Therapeuten gefunden haben, werden wir uns alle drei in Behandlung begeben. Ich weiß nicht, was mit Ernie oder mit unserer Familie nicht stimmt, aber gemeinsam werden wir es herausfinden. Mein Mann und mein Sohn bedeuten mir alles.«
»Dieses Pentagramm, das Ernie um den Hals trägt, wissen Sie, was das bedeutet?«
Joleens Augen flackerten kurz, dann wurde ihr Blick wieder ruhig. »Ja. Auch darum werden wir uns kümmern. Ich lasse nicht zu, daß Ernie mir entgleitet, Clare, egal, wie sehr er es auch versucht.«
Cam kam erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause, müde und mit schleppenden Schritten. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Cop wußte er,
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