Dunkle Herzen
die Frauen das Haus, den Duft von Schokoladenkuchen und blumigem Parfüm hinter sich lassend.
»Nicht ein Teller im Schrank«, flüsterte Min den anderen zu. »Nicht ein einziger Teller. Aber den Kühlschrank voller Bier. Wie der Vater, so die Tochter, sag’ ich euch.«
»Ach, komm schon, Min«, erwiderte Gladys Finch gutmütig.
Crazy Annie sang für ihr Leben gern. Als Kind hatte sie im Kirchenchor der Lutheranerkirche den Sopran gesungen, und ihre hohe, süße Stimme hatte sich im Lauf des letzten halben Jahrhunderts nicht verändert, genausowenig wie ihr kindlicher, unkomplizierter Verstand.
Sie hegte eine Vorliebe für leuchtende Farben und glitzernde Gegenstände. Oft trug sie drei Blusen auf einmal, eine über der anderen, und vergaß die Unterwäsche. Sie behängte sich mit klimpernden Armbändern, vergaß aber zu baden. Seit dem Tod ihrer Mutter vor zwölf Jahren gab es
niemanden mehr, der sich um sie kümmerte, ihr ihre Mahlzeiten zubereitete und dafür sorgte, daß sie sie auch aß.
Doch die Stadt ließ Menschen wie Annie nicht im Stich. Jeden Tag kam ein Mitglied des Frauenvereins oder des Gemeinderates bei ihrem schäbigen, bis unter das Dach vollgestopften Wohnwagen vorbei, brachte ihr etwas zu essen und bewunderte ihre neuesten Fundstücke.
Wie um sie für ihren verkümmerten Verstand zu entschädigen, war ihr Körper kräftig und robust, und obwohl ihr Haar inzwischen völlig ergraut war, hatte ihr Gesicht sich die jugendliche Frische bewahrt. Jeden Tag unternahm sie unabhängig vom Wetter meilenweite Spaziergänge, ihren Jutesack stets auf dem Rücken. Dann schaute sie bei Martha’s auf ein Doughnut und ein Glas Kirschbrause herein, fragte bei der Post nach bunten Briefmarken oder stand vor den Schaufenstern und betrachtete die Auslage.
Singend und vor sich hinplappernd wanderte sie am Straßenrand entlang, wobei sie ständig den Boden nach irgendwelchen Schätzen absuchte, oder sie pirschte sich im Wald und auf den Feldern an die Tiere heran; geduldig genug, um eine Stunde reglos dazustehen und einem Nüsse knabbernden Eichhörnchen zuzuschauen.
Annie war glücklich. Doch hinter ihrem lächelnden Gesicht verbargen sich Dutzende von Geheimnissen, die sie nicht verstand.
Tief im Wald kannte sie einen Ort, eine kreisrunde Lichtung, wo seltsame Zeichen in die Bäume eingeschnitzt worden waren. Die kleine Grube daneben roch manchmal nach verbranntem Holz – oder nach verbranntem Fleisch. Wann immer sie sich an diesem Ort aufhielt, prickelte ihre Haut vor Unbehagen. Einmal war sie nachts dort gewesen, als ihre Mutter sie alleine gelassen hatte und Annie die umliegenden Wälder nach ihr absuchte. Sie hatte Dinge dort gesehen; Dinge, die ihr vor Entsetzen das Blut in den Adern gefrieren ließen, Dinge, die ihr noch Wochen später Alpträume verursachten. Bis die Erinnerung dann verblaßte.
Inzwischen entsann sie sich nur noch schwach an unheimliche Kreaturen mit Menschenleibern und Tierköpfen.
Sie sangen. Sie tanzten. Einige stießen gräßliche Schreie aus. Doch Annie mochte diese Erinnerungen nicht, deshalb sang sie nur noch lauter, um sie zu verdrängen.
Nie wieder würde sie nachts an diesen Ort zurückkehren. No, Sir, nie wieder nachts. Aber an manchen Tagen zog es sie unwiderstehlich dorthin zurück, und heute war einer dieser Tage. Wenn die Sonne schien, hatte Annie auch keine Angst.
»It never rains in Califoor-nii-a .« Ihre mädchenhafte Stimme klang jubelnd durch den Wald, während sie den Sack zum Rand des Kreises schleifte. Kichernd wie ein ungezogenes Kind tippte sie mit dem großen Zeh ins Innere des Kreises. Im Gebüsch raschelte etwas, und ihr blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Doch dann kicherte sie erleichtert, als ein Hase aus dem Unterholz auftauchte und davonhoppelte.
»Hab’ keine Angst«, rief sie ihm nach. »Niemand hier, nur Annie. Niemand hier, niemand hier«, sang sie vor sich hin und vollführte kleine, wiegende Tanzschritte. »I never promised you a rosegarden .«
Der Mr. Kimball, der hatte immer die schönsten Rosen im Garten, dachte sie. Ab und zu pflückte er ihr eine ab und ermahnte sie, auf die Dornen achtzugeben. Aber er war ja tot, fiel ihr ein. Tot und begraben. Wie Mama.
Einen Augenblick lang verspürte sie echten, scharfen Schmerz. Dann trat wieder der übliche leere Ausdruck auf ihr Gesicht, als sie einen Spatz über sich hinwegflattern sah. Mit einer für ihre Fülle erstaunlich anmutigen Bewegung ließ sie sich außerhalb des Kreises
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