Dunkle Herzen
Sie sprach den Gedanken laut aus, um Trost im Klang ihrer eigenen Stimme zu suchen. Als sie die Diele betrat, massierte sie mit einer Hand ihren Brustkorb, wie um ihr heftig pochendes Herz zu beruhigen.
Eine Tasse Tee würde helfen, dachte sie. Sie würde hinuntergehen, sich einen Tee machen und sich dann auf dem Sofa zusammenrollen. Vielleicht bekam sie ja doch noch ein bißchen Schlaf, wenn sie sich einredete, nur ein Nickerchen halten zu wollen.
Außerdem würde sie die Heizung andrehen, das hatte sie vergessen, ehe sie zu Bett gegangen war. Die Frühlingsnächte waren kühl, deswegen fröstelte sie auch am ganzen Körper. Heizung, Radio und Licht, dann würde sie schlafen wie eine Tote.
Doch oben auf der Treppe blieb sie stehen und starrte
auf die schmalen Stufen, die zum Dachgeschoßzimmer führten, vierzehn ausgetretene Stufen, die vor einer verschlossenen Holztür endeten. Nur ein kurzer Gang, doch er lag immer noch vor ihr. So sehr sie auch versucht hatte, sich einzureden, daß sie sich diese Qual ersparen konnte, der Gedanke daran hatte sie, seitdem sie zum ersten Mal nach langer Zeit dieses Haus wieder betreten hatte, nicht mehr losgelassen.
Nein, gestand sie sich selbst ein, eigentlich hatte sie schon lange, ehe sie nach Emmitsboro in das Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt war, mit diesem Gedanken gespielt.
Vorsichtig ein Bein vor das andere setzend wie eine Betrunkene, ging sie in ihr Schlafzimmer zurück, um die Schlüssel zu holen. Leise klirrten sie in ihrer zittrigen Hand, als sie auf die Treppe zuging, die Augen fest auf die Tür über ihr gerichtet.
In der Dunkelheit des ersten Stockwerks verborgen, beobachtete Ernie jeden ihrer Schritte. In seiner mageren Brust hämmerte das Herz wie ein Preßlufthammer gegen die Rippen. Sie kam zu ihm. Kam wegen ihm. Sie zögerte kurz, dann stieg sie ins Dachgeschoß empor, und Ernies Lippen krümmten sich leicht.
Sie wollte ihn. Sie wollte, daß er ihr in diesen Raum folgte, den Raum gewaltsamen Todes. Den Raum der Geheimnisse und der dunklen Schatten. Seine Hand hinterließ eine feuchte Schweißspur auf dem Geländer, als er ihr langsam hinterherschlich.
Ein scharfer, stechender Schmerz bohrte sich in Clares Eingeweide und schien mit jedem weiteren Schritt ein Stück aus ihrem Inneren zu reißen. Als sie an der Tür angelangt war, rang sie keuchend nach Atem, fummelte ungeschickt mit den Schlüsseln herum und mußte sich mit einer Hand haltsuchend an der Wand abstützen, als es ihr endlich gelungen war, den Schlüssel ins Schloß zu stecken.
»Sie müssen sich mit der Realität auseinandersetzen, Clare«, würde Dr. Janowski jetzt sagen. »Sie müssen Tatsachen als gegeben hinnehmen und gefühlsmäßig verarbeiten.
Das Leben bringt oft Kummer und Schmerz mit sich, und der Tod ist nun einmal Teil des Lebens.«
»Leck mich«, flüsterte sie in die Dunkelheit. Was wußte dieser Mann schon von Kummer und Schmerz?
Mit metallisch quietschenden Scharnieren öffnete sich die Tür. Der Geruch nach kaltem Staub und schaler, abgestandener Luft schlug ihr entgegen. Irgendwo tief in ihrem Inneren hatte sie die Hoffnung gehegt, einen der typischen Düfte, die ihren Vater stets umgeben hatten, in diesem Zimmer wiederzufinden. Einen Hauch von English Leather vielleicht, das er jeden Morgen nach dem Rasieren benutzt hatte, oder eine Spur der Kirsch-Lifesavers, die er pausenlos gelutscht hatte. Ja, sie wäre sogar für den beißenden Whiskeygeruch dankbar gewesen, doch nichts von alledem war geblieben. Die Zeit hatte ihre Erinnerungen mit einem Teppich aus Staub zugedeckt. Und das war die furchtbarste Tatsache von allen. Sie knipste das Licht an.
Trostlose Leere herrschte in dem Raum. Der Fußboden war von einer dicken, grauen Staubschicht bedeckt, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Clare wußte, daß ihre Mutter die Büromöbel schon vor Jahren fortgegeben hatte, und sie hatte recht daran getan. Trotzdem wünschte sich Clare verzweifelt, noch einmal mit der Hand über die verkratzte Oberfläche des Schreibtisches ihres Vaters fahren zu können oder einmal, nur ein einziges Mal noch in seinem abgewetzten, durchgesessenen Bürostuhl zu sitzen.
An einer Wand reihten sich sorgsam mit Klebeband verschlossene Kartons aneinander. Staubflocken hefteten sich an Clares nackte, eiskalte Füße, als sie langsam darauf zuging, mit einem der Schlüssel, die sie immer noch fest umklammert hielt, das Klebeband durchtrennte und den Dekkel eines Kartons hob.
Und in
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