Dunkle Rosen: Roman (German Edition)
Urgroßonkels aufspüren und dir ein ganz gutes Bild von seinem Leben machen. Aber das hilft dir nicht weiter.«
»Da irrst du dich.« Roz betrachtete den Berg von Unterlagen und die Pinnwand hinter Mitch, die voller Zettel, Fotos und handgeschriebener Stammbäume hing. »Es hilft mir schon. Ich hätte mich schon längst darum kümmern sollen. Ich hätte von dem unglücklichen und ehebrecherischen Beau wissen sollen, von Lucybelle und ihrem Saloon und von all den anderen, die du für mich hast lebendig werden lassen.«
Roz stand auf und ging zur Pinnwand hinüber, um die Gesichter zu betrachten, die Namen zu studieren. Manche waren
ihr so vertraut wie ihr eigener; andere waren ihr zuvor völlig fremd gewesen.
»Mein Vater hat sich, wie ich jetzt sehe, mehr für die Gegenwart als für die Vergangenheit interessiert. Und mein Großvater starb, als ich noch so klein war; ich erinnere mich nicht, dass er mir Familiengeschichten erzählt hätte. Das meiste, was ich wusste, stammte von meiner Großmutter, die keine gebürtige Harper war, oder von älteren Cousins und Cousinen. Hin und wieder habe ich in den alten Unterlagen geblättert und hatte immer vor, mich einmal gründlicher damit zu befassen, mehr darin zu lesen. Doch das habe ich nie getan.«
Sie trat von der Pinnwand zurück. »Die Geschichte einer Familie, alle, die vor einem kamen, sind wichtig, und bis vor Kurzem habe ich ihnen keinen genügenden Respekt entgegengebracht.«
»Ersterem stimme ich zu, Letzterem nicht. Dieses Haus zeigt, welch großen Respekt du vor deiner Familie hast. Also, im Grunde muss ich dir sagen, dass ich Amelia nicht für dich finden kann. Meine Beobachtungen und mein Gefühl sagen mir, dass sie eine deiner Vorfahren ist. Aber sie ist keine direkte Angehörige. In den Familienunterlagen werde ich ihren Namen nicht mehr finden. Und ich glaube auch nicht, dass sie als Hausangestellte hier beschäftigt war.«
»Nicht?«
»Wenn du bedenkst, was das damals für eine Zeit war, was für Sitten herrschten. Es könnte zwar durchaus sein, dass sie als Dienstmädchen von einem Familienmitglied geschwängert wurde, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie dann während der Schwangerschaft weiter im Haus bleiben und arbeiten durfte. Sie wäre sicherlich fortgeschickt worden, hätte – vielleicht – eine finanzielle Entschädigung bekommen. Aber das erscheint mir nicht plausibel.«
Nach einem letzten Blick auf die Pinnwand kehrte Roz zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich wieder. »Warum nicht?«
»Reginald war das Familienoberhaupt. Aus allen Informationen, die ich über ihn habe, geht hervor, dass er unglaublich stolz war; er war sich seiner, sagen wir, hochfliegenden gesellschaftlichen Stellung in dieser Gegend äußerst bewusst. Politik, Geschäfte, Gesellschaft. Um ehrlich zu sein, Roz, ich glaube nicht, dass er das Stubenmädchen flachgelegt hat. Er wäre wählerischer gewesen. Natürlich könnte besagtes Flachlegen auch ein Verwandter, ein Onkel, ein Schwager, ein Cousin übernommen haben. Aber mein Bauch sagt mir, dass es zu Amelia eine engere Verbindung gibt.«
»Und die wäre?«
»Eine Geliebte. Eine andere Frau, die seine Bedürfnisse erfüllte. Eine Mätresse.«
Roz schwieg ziemlich lange. »Weißt du, was ich interessant finde, Mitchell? Dass wir aus verschiedenen Richtungen zum gleichen Punkt gelangt sind. Du hast dich durch so viele Stapel von Unterlagen gearbeitet, dass ich beim bloßen Gedanken daran Kopfschmerzen bekomme. Du hast Telefonate geführt, im Internet und auf Standesämtern recherchiert. Hast Grafiken, Stammbäume und der Himmel weiß was noch erstellt. Und durch all das hast du mir nicht nur eine Vorstellung von meiner Familie gegeben, die ich nie eines Blickes gewürdigt habe, von Menschen, deren Namen ich nicht kannte, denen ich aber, im wörtlichen Sinne, mein Leben verdanke. Sondern du hast auch Dutzende von Möglichkeiten ausgeschlossen, Dutzende von Annahmen, wer diese arme Frau gewesen sein könnte, sodass wir allmählich der richtigen Antwort auf die Spur kommen. Glaubst du, wenn uns das gelingt, findet sie ihren Frieden?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Warum bist du so traurig? Es zerreißt mir das Herz, dich so zu sehen.«
»Ich weiß auch nicht genau. Heute ist Folgendes passiert«, sagte Roz und erzählte ihm alles. »Ich hatte solche Angst.« Sie atmete tief durch. »Ich hatte in der Nacht Angst, in der sie uns aus dem Kinderzimmer ausgesperrt hat, und auch, als du und
ich vom Balkon
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