Dunkle Rosen: Roman (German Edition)
einer gewissen Distanz versuchen und seine Energien unterdessen auf andere knifflige Dinge richten als auf die rätselhafte Rosalind Harper.
Er hatte einige Laufereien zu erledigen, genauer gesagt Sitzereien. Nach ein paar Stunden an seinem Computer konnte er Geburts-, Todes- und Hochzeitstage, die in der Harper’schen Familienbibel aufgelistet waren, bestätigen. Mithilfe seiner Informationen aus dem Internet und vom Standesamt hatte er bereits einen Familienstammbaum erstellt.
Seine Kunden liebten Stammbäume. Darüber hinaus waren sie für ihn Werkzeuge, ebenso wie die Abzüge der Familienfotos und die Briefe. Mitch heftete alles an eine riesige Pinnwand, in diesem Fall sogar an zwei. Eine hing zu Hause in seinem Arbeitszimmer, die andere in der Bibliothek von Harper House.
Bilder, alte Fotos, alte Briefe, Tagebücher, hingekritzelte Familienrezepte, all diese Dinge erweckten die Menschen für ihn zum Leben. Und wenn er sie zum Leben erweckt hatte, wenn er sich allmählich eine Vorstellung von ihrem Alltag, ihren Gewohnheiten, ihren Fehlern und Beschwerden machen konnte, wurden sie ihm wichtiger als je ein Job oder ein Projekt ihm sein konnten.
Er konnte Stunden damit zubringen, in Elizabeth Harpers Gartennotizen zu blättern oder in dem Babytagebuch, das sie über Roz’ Vater geführt hatte. Woher hätte er sonst wissen sollen, dass Roz’ Erzeuger im Alter von drei Monaten an Zöliakie
gelitten oder dass er zehn Monate später die ersten Schritte gemacht hatte?
Es waren die Details, die Kleinigkeiten, durch die die Vergangenheit vollständig und unmittelbar greifbar wurde.
Und auf dem Hochzeitsfoto von Elizabeth und Reginald junior konnte er Rosalinds Züge in ihrem Großvater erkennen. Das dunkle Haar, die länglichen Augen, die starken Wangenknochen.
Was hatte er ihr sonst noch vererbt und durch sie auch ihren Kindern, dieser Mann, an den sie sich kaum noch erinnerte?
Geschäftssinn zum Beispiel, stellte Mitch fest. Aus anderen Einzelheiten, jenen Bruchstücken, die sich in Zeitungsausschnitten oder Haushaltsbüchern fanden, entstand für ihn das Bild eines Mannes, den sein ausgezeichnetes Händchen für Geldanlagen vor dem Schicksal bewahrt hatte, das viele seiner Zeitgenossen beim Börsenkrach erlitten hatten. Ein vorsichtiger Mann und einer, der Grundbesitz und Aktien der Familie zusammenhielt.
Und doch, wirkte er nicht kühl? Das fragte sich Mitch, als er die Fotografien an seiner Pinnwand studierte. In seinen Augen lag eine gewisse Unnahbarkeit, die über den damaligen Stil der Fotografie hinausging.
Vielleicht lag das daran, dass er in eine reiche Familie hineingeboren worden war – der einzige Sohn, auf dessen Schultern die Verantwortung lastete.
»Was«, überlegte Mitch laut, »wusstest du über Amelia? Bist du ihr je begegnet, leibhaftig? Oder war sie bereits tot, schon ein Geist in diesem Haus, als deine Zeit anbrach?«
Irgendjemand hat sie gekannt, dachte er. Jemand hat mit ihr gesprochen, sie angefasst, ihr Gesicht, ihre Stimme gekannt.
Und zwar jemand, der in Harper House gewohnt oder gearbeitet hatte.
Mitch begann mit einer Überprüfung der Hausangestellten, deren vollständige Namen ihm vorlagen.
Das war zeitaufwändig, und es berücksichtigte noch nicht die unzähligen anderen Möglichkeiten. Amelia konnte ein Gast gewesen sein, eine Bedienstete, deren Name nicht auf der Liste stand – oder aus dem Familienregister getilgt worden war –, auch eine entfernte Verwandte oder eine Freundin der Familie.
Natürlich konnte Mitch darauf spekulieren, dass Informationen durchgesickert wären, wenn eine Besucherin, eine Freundin, eine entfernte Verwandte im Haus verstorben wäre. Dann wäre ihre Identität bekannt gewesen.
Andererseits waren das nur Vermutungen, die zudem außer Acht ließen, was für ein Skandal ein solcher Fall gewesen wäre und wie gerne derartige Angelegenheiten vertuscht wurden.
Es war auch möglich, dass Amelia für die Harpers von keiner besonderen Bedeutung gewesen war, dass sie im Schlaf verstorben war, aber niemand dies für der Rede wert gehalten hatte.
Im Übrigen war es ein weiteres Paradoxon, überlegte Mitch, während er sich zurücklehnte, dass er, ein rationaler, einigermaßen logisch denkender Mensch, beträchtliche Zeit und Mühe darauf verwendete, Nachforschungen über einen Geist anzustellen und ihn zu identifizieren.
Der Trick dabei war, Amelia nicht als Geist zu betrachten, sondern als lebendige Frau aus Fleisch und Blut, eine Frau, die
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