Dunkle Rosen: Roman (German Edition)
geboren worden war, die gelebt, sich angekleidet und gegessen, gelacht und geweint, geredet und sich bewegt hatte.
Sie hatte existiert. Sie hatte einen Namen. Es war seine Aufgabe, die drei Fragen »Wer«, »Was« und »Wann« zu beantworten. »Warum«, das war lediglich die Bonusfrage.
Er kramte eine Zeichnung aus seinem Aktenordner und betrachtete eingehend das Bild, das Roz angefertigt hatte. Es zeigte eine junge, dünne Frau mit üppigen Locken und kummervollen Augen. Und anhand dessen hatten sie versucht, sie zeitlich einzuordnen, dachte er kopfschüttelnd. Anhand eines Kleides und einer Frisur.
Nicht, dass die Zeichnung nicht gut gewesen wäre. Mitch
hatte Amelia nur einmal gesehen, und damals hatte sie nicht so ruhig und traurig ausgesehen, sondern wild und wahnsinnig.
Das Kleid konnte zehn oder sogar zwanzig Jahre alt sein. Oder brandneu. Die Frisur konnte ihrem persönlichen Geschmack oder dem Zeitgeist entsprechen. Es war unmöglich, sich auf der Basis von so, nun ja, skizzenhaften Informationen auf Amelias Alter oder eine Epoche festzulegen.
Und doch glaubte Mitch aufgrund seiner bisherigen Recherchen, dass sie nicht weit danebenlagen.
Die Berichte von den Träumen, die bruchstückhaften Informationen, die Überlieferungen selbst schienen ihren Ursprung in der Zeit zu haben, in der Reginald Harper das Familienoberhaupt gewesen war.
Reginald Harper, dachte Mitch und kippelte mit seinem Stuhl zurück, um an die Decke zu starren. Reginald Edward Harper, geboren 1851, das jüngste von vier Kindern von Charles Daniel Harper und Christabel Westley Harper. Der zweite und einzige überlebende Sohn. Sein älterer Bruder Nathaniel starb im Juli 1864 im Alter von achtzehn Jahren in Charlestown in der Battle of Bloody Bridge im Amerikanischen Bürgerkrieg.
»Verheiratet mit Beatrice …« Mitch wühlte erneut in seinen Unterlagen. »Ja, da ist es, 1880. Fünf Kinder. Charlotte, geboren 1881, Edith Anne, 1883, Katherine, 1885, Victoria, 1886 und Reginald junior, 1897.«
Ein großer Abstand zwischen den letzten beiden Kindern, wenn man bedachte, wie dicht die anderen aufeinander gefolgt waren, dachte Mitch und notierte, dass es möglicherweise Fehlgeburten und/oder Totgeburten gegeben hatte.
Das konnte sogar gut sein; auch die Geburtenkontrolle war damals noch unzuverlässig. Außerdem schien es nur natürlich zu sein, dass Reginald sich einen Sohn gewünscht hatte, der den Familiennamen weiterführen sollte.
Mitch überflog den Familienstammbaum, den er für Beatrice angefertigt hatte. Eine Schwester, ein Bruder, eine Schwägerin.
Doch alle diese weiblichen Verwandten waren erst lange nach den ersten Berichten von Erscheinungen und Träumen verstorben, was sie zu unwahrscheinlichen Kandidaten machte. Überdies hatte keine von ihnen Amelia geheißen.
Natürlich hatte er auch keine Hausangestellte dieses Namens gefunden. Noch nicht.
Vorerst kehrte er jedoch zu Reginald Harper zurück, dem Familienoberhaupt während der Zeit, die am ehesten infrage kam.
Aber wer war dieser Harper? Wohlhabend, gut betucht. Erbe des Hauses und der Aktien, da der ältere Bruder davongelaufen war, um Soldat zu werden, und im Kampf für seine Sache gefallen war. Überdies war er das Nesthäkchen der Familie.
Er hatte gut geheiratet, während seiner Ehe weitere Aktien angehäuft und Roz’ Aufzeichnungen zufolge das Haus vergrößert und modernisiert. Also gut verheiratet, gut gelebt und ohne Scheu, seine Kohle auszugeben. Allerdings wechselten während der Jahre, in denen er am Ruder war, ständig die Dienstmädchen und anderen weiblichen Hausangestellten.
Vielleicht hatte Reginald gern mit dem Feuer gespielt. Oder seine Frau war ein Drachen gewesen.
War das lange Warten auf einen Sohn frustrierend und zermürbend gewesen, oder war er glücklich mit seinen Töchtern? Das hätte Mitch zu gerne gewusst.
Doch es lebte niemand mehr, der es ihm sagen konnte.
Mitch setzte sich wieder an seinen Computer und begnügte sich vorläufig mit den Fakten.
Da Roz durch das Teilen ihrer privaten Exemplare so viele Zimmerpflanzen hatte, stellte sie einen Teil davon für das Lager zur Verfügung. Auf Stellas Vorschlag hin verwendete sie weitere, um gemeinsam mit ihr ein paar Tischgärten herzustellen.
Sie arbeitete gern mit Stella zusammen, und das war etwas Besonderes. Normalerweise hatte Roz beim Umtopfen oder
Vermehren am liebsten nur ihre Pflanzen und ihre Musik um sich.
»Fühlt sich gut an, in der Erde zu wühlen«, bemerkte
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