Dunkle Spiegel
diesem Moment so nutzlos und hilflos fühlte. Ramirez legte mir die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht, aber kräftig genug, um mich aus meinen Gedanken herauszureißen.
“Haben wir Hinweise auf den Täter?” fragte ich mit fester Stimme.
“Wir haben ein bisschen was. Also, wenn es sich hierbei um den gleichen Täter wie in den anderen Morden der jungen Frauen handelt, dann macht er jetzt langsam Fehler.” Er führte uns zu der Kommode gegenüber des Betts, so dass wir diesem scheußlichen Anblick eine kurze Zeit den Rücken zudrehen konnten. Triumphierend hielt er ein paar kleine Tütchen der Spurensicherung hoch, jedes mit Nummern beschriftet.
“Hier haben wir ein kleines Stück raues Leder. Wir fanden es an einem ungewöhnlichen Ort - nämlich in ihrem Mund. Genauer gesagt, in ihrer linken Wange. Hier haben wir ein weiteres Seidentuch. Es lag auf dem Boden, zusammengeknüllt. Und dann noch ein Stück Fußnagel … wobei der auch vom Opfer stammen könnte. Und im Bad zwei Fußabdrücke, aber jeder nur halb vorhanden.”
“Kein Sperma - trotz Geschlechtsverkehr? Kein Blut, nichts?”
“Nein, tut mir leid. Vielleicht ergibt die pathologische Untersuchung im Labor etwas - aber bis dahin müssen wir leider davon ausgehen, dass er wieder einmal `nichts` zurückgelassen hat. Und selbst, wenn der Fußnagel vom Täter stammen würde, bräuchten wir noch eine Vergleichsprobe wenn sich meine Vermutung als richtig erweist und unser Mann nicht schon früher augenfällig geworden und deshalb in unserem System registriert wäre.”
“Zeitpunkt des Todes?”
“Wir gehen davon aus, dass der Tod in den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages eingetreten ist. So zwischen fünf und sechs Uhr am Sonntagmorgen.”
“Und heute morgen wurde sie erst entdeckt.” Ramirez machte sich eine kleine Notiz, sagte aber sonst nichts dazu. Dann verließen wir dieses Zimmer und kehrten ins Wohnzimmer zurück.
Chapler saß am Computer, die Hände sorgfältig durch Handschuhe geschützt. Er tippte wie wild auf der Tastatur und verfolgte die Meldungen auf dem Bildschirm. Er schien uns gar nicht zu bemerken.
“Wie sieht es aus? Haben Sie etwas für uns?” Ohne ein Wort zu sagen oder uns eines Blickes zu würdigen, wies er mit der linken Hand auf einen Stapel Seiten, die feinsäuberlich im Auswurffach des Druckers lagen. Noch während wir versuchten, etwas lesen zu können, kam eine neue hinzu und verdeckte die darunterliegende.
“Was ist das?” fragte ich. Jetzt erst drehte er sich zu uns und lehnte sich bequem im Chefsessel zurück.
“Ich habe, wie gesagt, die vorhandenen Dokumente und ihre elektronische Post überprüft. Leider ohne großen Erfolg. Keine Briefe, kein Tagebuch - nichts. Aber als ich die E-Mails überprüfen wollte, fiel mir etwas auf. Nämlich: dass keine da waren.”
“Na und? Was sagt uns das?” fragte ich verwundert. Chapler nahm die unterste Seite des Stapels und gab sie mir. Eine Reihe von Namen und Emailadressen standen darauf. Die ganze Seite war von unten bis oben voll damit. Oben rechts bemerkte ich den Hinweis Seite 1 von 3 . Ich runzelte die Stirn und sah ihn erstaunt an.
“Es ist ganz einfach. Sie hatte - ihrem E-Mail-Adressfach zu urteilen - sehr viele Freunde oder Bekannte, mit denen sie sich regelmäßig E-Mails austauschen konnte. Ihr Emailfach ist auch auf einen extra großen Speicherplatz für möglichst viele Nachrichten ausgelegt. Aber: es befindet sich nicht eine Nachricht darin! Keine einzige!”
“Aber das ist doch nichts Ungewöhnliches. Vielleicht hat sie die E-Mails einfach gelöscht.” entgegnete ich.
“Stimmt. Aber wenn man E-Mails löscht, findet man sie für gewöhnlich in einer Art elektronischem Mülleimer, für den man einen separaten Befehl benötigt, um ihn zu leeren. Außer,” und hier machte er eine kleine Pause, um seine nächsten Worte besser wirken lassen zu können, “außer, wenn jemand einen Befehl zur dauerhaften Löschung aktiviert.”
“Und? Ist das hier der Fall?”
Chapler nickte. Auf meinen fragenden Blick hin fügte er rasch hinzu: “Man kann sogar zurückverfolgen, wann der Befehl aktiviert worden ist. Und das eigentlich so Interessante ist, dass das … gestern um 17.46 erfolgt war. Wenn ich eben die Worte Ihres Kollegen richtig mitbekommen habe, war sie zu diesem Zeitpunkt aber schon tot, oder?”
“Scheiße!” entfuhr es mir.
“Das heißt also, dass der Täter diesen Befehl gegeben hat, um E-Mails zu löschen, in denen
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