Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
hatte Mr. Colfer ebenso lange gekannt, wie ich all die anderen kannte. Ich musste an den Tag denken, an dem Min mir nicht erlaubte, in die Schule zu gehen, weil ich noch nicht alt genug sei – an dem Tag rannte ich nämlich in Mr. Colfers Laden und verkündete, ich könne schon lesen, und er schenkte mir netterweise eine Orange. Wo war seine Individualität jetzt? War sie nur ein kleiner Schnörkel in der großen Schöpfung, so wie die Millionen und Abermillionen verschiedener Muster auf den Flügeln der Vögel?
Peg war schrecklich traurig. Sie schluchzte so herzerweichend, dass ich aus lauter Mitgefühl auch zu weinen begann, bis Tess mir einen empörten Blick zuwarf. Als der Priester am Schluss
zum Sarg trat, ihn mit Weihwasser besprengte und den Weihrauchkessel schwang, wurde Peg regelrecht hysterisch. Weil sie vor Tränen nichts mehr sehen konnte, musste ihr Bruder, der aus Kanada angereist war, sie fast tragen, als sie den Gang entlanggingen.
Wir drückten uns an die Kirchenmauer, unter Tessas Regenschirm, während wir warteten, bis die Familienangehörigen den Trauergästen die Hand geschüttelt hatten und abgefahren waren. Tess zog kurz ihren Mantel aus, um mir die eindrucksvolle Schorfkruste auf ihrem Arm zu zeigen, die sie von den Impfungen für Laos bekommen hatte. Aber ich wies sie dezent darauf hin, dass meine Gedanken momentan in höheren Sphären schwebten.
»Ist das nicht unfassbar?«, sagte ich zu ihr. »Wir tun alle so, als wäre das völlig normal. Es ist ein öffentliches Ereignis, aber schau dich doch mal um – eigentlich sieht man hier vor allem, wie sehr die Familie doch eine Privatsache ist. Wir haben keine Ahnung, wie die Gewichte in dieser Familie verteilt waren. Warum haben die Kinder Mr. Colfer so geliebt? Die meisten Leute wissen vor allem, dass er Pegs Mutter herumkommandiert hat. Und dann das Theater wegen Enzos Frau, du erinnerst dich bestimmt. Und er hat immer mindestens zehn Minuten gebraucht, um einem Kunden eine Schachtel Streichhölzer zu verkaufen. Warum hat sich Peg so für ihn aufgeopfert? Jetzt ist er nicht mehr da, und sie ist zu alt für ein Kind. Es sei denn, sie geht nach Italien, zu diesem verrückten Gynäkologen, wie heißt er gleich? Wenn man der Tatsache, dass man geboren wurde, einen Sinn verleihen will, bekommt man am besten ein Kind. Und schon hat man eine Existenzberechtigung. Man wird Teil der Sippe. Ist dir beim Abendmahl aufgefallen, wie die Generationen Schlange stehen, wie Schwimmer am Sprungbrett? Letztes Jahr und dieses Jahr und nächstes Jahr ist die Zeit reif für Mr. Colfer und für deine Eltern. Und wenn diese Generation ins
Jenseits gesprungen ist, dann ist Min dran, und danach kommen wir an die Reihe, du und ich und Andy, wir alle. Aber die Sache ist die: Wir haben keine Kinder, Tessie, du und ich, das heißt, wenn wir keine Genies sind, was wir nicht sind, dann gibt es eigentlich keine Rechtfertigung für unser Dasein. Normalerweise geht man immer weiter, wartet in der Schlange auf den Tod, und dann springt man, und man lässt Kinder zurück, die erwachsen und alt werden und schließlich selbst an der Reihe sind. Wenn du keine Kinder hast, lässt du nichts zurück. Du bist ein Auslaufmodell.«
»Himmelherrgott!«, stöhnte Tess. »Die Erde ist voll mit Kindern. Wenn du unbedingt ein Kind möchtest, dann kannst du ja einem helfen, das schon auf der Welt ist. Das wäre mal was anderes als ewig nur dein Hund. Wir wollten beide kein Kind, soviel ich weiß, du nicht und ich auch nicht. Wenn wir eins gewollt hätten – wer oder was hätte uns daran hindern sollen? Und außerdem, Rosie, du kannst es nicht mehr ändern. Sollen wir uns denn für den Rest unseres Lebens dafür entschuldigen?«
»Na ja, ich wollte nur sagen, das ist das Schicksal der ganzen Menschheit: Wir stehen Schlange, um in den Tod zu springen«, erwiderte ich trotzig. »Deshalb muss man sich ablenken. Sofern einem etwas einfällt, womit man sich ablenken kann. Was ich zurzeit leider nicht schaffe.«
»Aber vielleicht ist ja etwas da drüben, im Jenseits«, erwiderte Tess. »Und selbst wenn auf der anderen Seite nichts ist, das heißt, wenn dieses Leben alles ist, was wir haben – ist das nicht ein Grund, jede Minute sogar noch mehr zu genießen?«
Ich folgte ihrem Rat. Wir zwei verbrachten einen wunderbaren Tag, und als ich heimging, in Mins Haus, hatte ich gemeinsam mit der gesamten Bevölkerung von Kilbride in dem Pub beim Glasnevin-Friedhof etwa eine Million Drinks
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