Dunkle Visionen
dass mir diese Sache wichtig ist. Warum fragst du? Hast du ein Problem damit?“
„Nein, selbstverständlich nicht.“
Sie verabschiedeten sich und legten auf. Kyle erhob sich und streckte müde, aber rastlos seine Glieder.
Das Telefon läutete erneut. Es war Kaila, die nur mal kurz Hallo sagen wollte. Dann klingelte es auf der zweiten Leitung, und diesmal war es Trent. Ein dritter Anruf kam von Jassy, die ihn in ein ausuferndes Gespräch über ein gerichtsmedizinisches Gutachten verwickelte, bevor sie erklärte, dass sie eigentlich nur der Höflichkeit halber anrufe und dass es schön sei, ihn endlich wieder mal zu Hause zu haben.
Kaum hatte er aufgelegt, läutete es von neuem. Er versuchte sich einzureden, dass er nicht hoffte, es könnte Madison sein.
Sie war es nicht. Es war Rafe. Er erzählte, er käme gerade mit einer Freundin aus dem Kino am Cocowalk. Sie wohne am Grove, und er würde sie nur noch schnell nach Hause bringen, und dann könnten sie sich vielleicht auf einen kurzen Drink treffen, falls Kyle das recht wäre.
Kyle war es recht.
Auf dem Coconut Grove war selbst nach zehn Uhr abends noch viel los. Touristen aus aller Welt, zwischen denen sich die Einheimischen drängten, bummelten die Straße hinunter.
Kyle schlenderte durch eine Buchhandlung, die an Werktagen bis elf Uhr abends geöffnet hatte, und kaufte sich einige Tageszeitungen, dann ließ er sich von der Menge über den Cocowalk treiben, wo er mit Rafe im Fat Tuesday verabredet war. Sein Bruder saß bereits mit einem Bier an der Bar und schaute sich die Hockey-Endergebnisse an.
Kyle gesellte sich zu ihm und bestellte dasselbe. „Und du wolltest nicht noch auf einen Drink bei deiner Freundin bleiben?“ erkundigte er sich.
Rafe lächelte langsam und zuckte die Schultern. Er war knapp zwei Jahre älter als Kyle – Roger hatte seine Frauen immer schnell wieder abgelegt, als er jung war –, doch obwohl sie fast gleichaltrig waren, den gleichen Körperbau und dieselbe ausgeprägte Vorliebe für die Sonne besaßen, waren sie sich ansonsten kaum ähnlich. Rafe war ein guter Student gewesen, er war ernst und engagiert und nicht im mindesten künstlerisch veranlagt, dafür aber ein Finanzgenie. Er hatte mehrere Jahre als Börsenmakler gearbeitet und anschließend seine Ersparnisse so klug investiert, dass er nach kurzer Zeit in der Lage gewesen war, nur von dem, was seine Investitionen abwarfen, gut zu leben. Die Jahre in der Sonne hatten seine Haare platinblond gebleicht, und trotz seiner ernsthaften Natur blitzten seine silbergrauen Augen gelegentlich belustigt auf, so wie sie es jetzt taten. „Ich wäre schon ganz gern noch geblieben, aber ich wurde nicht eingeladen. Scheint so, als müsste ich mich beim nächsten Mal noch ein bisschen mehr ins Zeug legen. Sie ist Krankenschwester – sie muss morgen früh um sechs in der Klinik sein. Nettes Mädchen. Na, mal sehen, wie es weitergeht.“
„Es wird langsam Zeit, dass du dich nach etwas Ernsthaftem umschaust.“
„Ich schaue ja schon dauernd“, versicherte Rafe ihm grinsend. „Und was ist mit dir? Wie ergeht es dir denn so in unserer lasterhaften Stadt?“
„Ganz gut. Immerhin haben wir schon ein paar Spuren.“ Er erzählte seinem Bruder von dem Torso und den Tattoos und den Rosen, die bei Maria Garcia abgeliefert worden waren, wobei er ihn bat, diese Informationen für sich zu behalten. Dann zuckte er unglücklich mit den Schultern. „Jimmy hat Madison in die Sache mit reingezogen.“
„Na und? Schließlich hat sie schon öfter mit ihm zusammengearbeitet. Ist doch klar, dass er bei einem Fall wie diesem ihre Hilfe in Anspruch nimmt, wenn sie ihm helfen kann.“
„Es gefällt mir nur nicht.“
„Warum? Was sieht Madison denn? Wie nah kommt sie ran?“ Kyle schüttelte missbilligend den Kopf. „Bisher hat sie nur das Opfer gesehen.“
„Sie sieht meistens nur die Opfer. Den Mörder ihrer Mutter hat sie schließlich auch nie gesehen, falls du dich erinnerst.“
„Es hat auch schon andere Fälle gegeben. Manchmal sieht sie das, was das Opfer sieht. Aber du hast Recht. In diesem Fall scheint bei ihr dort, wo eigentlich der Mörder sein müsste, ein blinder Fleck zu sein. Bis jetzt ist nur dabei herausgekommen, dass sie den Schmerz der Frau verspürt hat, die getötet wurde. Ich möchte einfach nicht, dass sie da mit reingezogen wird.“
„Schön, aber was willst du dagegen unternehmen?“ fragte Rafe mit einem resignierten Schulterzucken. „Jimmy wird sich ihrer Hilfe
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