Dunkle Wasser
er mich wie ein Huhn dastehen sah, dem man den Hals abdrehen wollte.
»Vater!« schrie er. »Tu ihr ja nicht weh! Wenn du Heavenly wie uns andere auch verkaufst, such ihr die besten Eltern aus!
Wenn du’s nicht tust, komm’ ich eines Tages nach Hause, und dann wirst du’s bereuen, daß du jemals ein Kind in die Welt gesetzt hast.« Seine wilden Augen trafen meine. »Ich komm’
zurück, Heavenly!« schrie er weiter. »Ich hab’s versprochen und werd’ meinen Eid nicht vergessen. Ich danke dir für das, was du für mich und uns alle getan hast. Werd’ dir so oft schreiben, daß du mich gar nicht vermissen wirst – und ich werd’ dich finden, egal wo du steckst! Hab’ diesen Eid geschworen und werd’ ihn niemals brechen.«
Meine Augen waren gereizt und geschwollen, als hätte ich zwei farblose, ausgebrannte Sonnen hinter tiefschwarzen Monden. »Tom… bitte, bitte, schreib. Wir werden uns wiedersehen, das weiß ich ganz bestimmt. Mr. Henry, wo wohnen Sie?«
»Sagen Sie ihr’s nicht«, warnte Vater und verstärkte den Druck seiner Finger um meinen Hals. »Die hier bringt nur Ärger, und lassen Sie Tom nicht schreiben. Zumindest nicht der hier. Sie heißt Heaven. Man hätte sie Hell nennen sollen.«
»Vater«, rief Tom. »Sie ist das Beste, was du hast, und du weißt es auch.«
Tom war jetzt draußen, und die Türe stand offen. Es gelang mir, mit heiserer Stimme etwas hinauszuschreien. »Es gibt immer eine Brücke, Thomas Luke, vergiß das nicht. Und du wirst deine Träume verwirklichen können, ich weiß es genau!«
Er wandte sich um und verstand mich; er winkte, lächelte, und dann stiegen sie in den Lastwagen ein, und Tom streckte seinen Kopf aus dem Fenster hinaus und brüllte mir etwas zu.
»Egal, wo du bist oder wer uns auseinanderbringen will, ich find’ dich, Heavenly! Werd’ dich nie vergessen! Wir werden zusammen Keith und Unsere-Jane finden, so wie wir’s uns vorgenommen haben!«
Der schmutzige, alte Lastwagen fuhr los, auf die holprige Straße zu. Ich war allein mit Vater und Großvater. Vater ließ mich los, und in einem Zustand hoffnungsloser Verzweiflung sank ich zu Boden.
Ich ahnte schon, was Tom bevorstand.
Keine Schulausbildung mehr, kein Jagen und Fischen, kein Baseball-Spiel oder Herumtoben mit seinen Kameraden, nur Arbeit, Arbeit und nichts als Arbeit.
Der begabte Tom würde seine Hoffnungen und Träume auf einer Kuhweide begraben müssen und das Leben eines Farmers fristen – ein Leben, von dem er immer gesagt hatte, daß er es nicht ausstehen könnte.
Mein eigenes, ungewisses Schicksal versetzte mich jedoch in ebenso große Angst.
11. KAPITEL
ICH TREFFE MEINE WAHL
Tom war fort.
Nun hatte ich keine Menschenseele mehr, die mich liebte.
Wer würde mich jemals wieder Heavenly nennen?
Tom nahm alles Lachen, alle Heiterkeit und Freude, all den Mut und Humor, womit er die grimmige Atmosphäre in der Hütte aufgelockert hatte, mit sich. Die heitere Seite meines Gemüts verschwand mit dem lehmbespritzten Lastwagen, dessen Nummernschild so verdreckt gewesen war, daß ich es nicht entziffern konnte – obwohl ich mich anstrengte. Ich war dumm gewesen, als ich glaubte, ich sei allein und verlassen, als Keith und Unsere-Jane fortgingen. Jetzt war ich wirklich allein, ich, das einzige Kind, das Vater haßte.
Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich auch das einzige Kind war, das irgend etwas Nützliches für diesen Haushalt unternahm. Ich kochte, machte sauber und kümmerte mich um Großvater. Bestimmt hatte Vater nicht vor, Großvater hier ganz allein zurückzulassen…
Ich wollte, daß Vater ging; daß er die Tür hinter sich zuknallen, in den Lieferwagen springen und nach Winnerrow fahren würde – oder wo immer er sich jetzt aufhielt, da er nun nicht mehr zu »Shirley’s Place« gehen konnte.
Vater blieb.
Er ließ sich wie ein Wachhund vor unserer einzigen Tür nieder und gab mir zu verstehen, daß er so lange auf mich aufpassen würde, bis auch ich verkauft worden war.
Er sagte kein Wort, sondern hockte nur still und verdrossen da. Wenn die Nacht hereinbrach, rückte er seinen Stuhl näher an den Ofen, legte seine großen Füße darauf und starrte bedrückt ins Leere.
Nachdem Tom mit Buck Henry fortgefahren war, versuchte ich in den folgenden Tagen immer wieder allein zu fliehen, wann immer sich mir die Gelegenheit bot.
Ohne Tom, Keith und Unsere-Jane hatte ich jedoch nicht die Kraft und den Mut, irgendwohin zu gehen, um mich vor dem zu retten, was letzten
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