Dunkler Grund
entwickelte sich ein gezwungenes, etwas schleppendes Gespräch. Man erkundigte sich nach Hesters Fahrt von London herauf, sie antwortete, es sei eine wunderbare Reise gewesen, und bedankte sich für das Interesse.
Alastair runzelte die Stirn und blickte hinüber zu seinem jüngeren Bruder, der auffallend hastig aß.
»Wir haben ausreichend Zeit, Kenneth. Der Zug fährt erst um Viertel nach neun.«
Kenneth aß weiter; er hob nicht einmal den Blick, um Alastair anzusehen. »Ich komme nicht mit zum Bahnhof. Ich verabschiede mich hier von Mutter.« Es entstand ein kurzes Schweigen. Jetzt unterbrach auch Oonagh ihr Mahl und sah zu ihm hinüber. »Ich gehe aus«, sagte er. Seine Stimme klang trotzig.
Damit war Alastair nicht zufrieden. »Was hast du vor? Erst ißt du hier zu Abend, und dann willst du nicht mal mit uns zum Bahnhof kommen, um Mutter zu verabschieden?«
»Ist es nicht egal, ob ich mich hier oder am Bahnhof von ihr verabschiede?« wollte Kenneth wissen. »Ich esse mit euch, um mich ordentlich verabschieden zu können.« Sein Lächeln sollte wohl bedeuten, daß er diese Antwort für ausreichend hielt.
Alastair schürzte ein wenig die Lippen, sagte jedoch nichts. Kenneth aß weiter, immer noch hastig.
Der nächste Gang wurde serviert, und während sie aßen, studierte Hester unauffällig die Gesichter. Kenneth war offensichtlich ganz versessen auf seine Verabredung, wen auch immer er treffen mochte. Er blickte weder nach links noch nach rechts, aß ohne Pause und lehnte sich mit unverhohlener Ungeduld zurück, während er darauf wartete, daß das Hausmädchen seinen Teller abräumte und der Hauptgang serviert wurde. Zweimal machte er Anstalten, etwas zu sagen, und Hester spürte, daß er gerne darum gebeten hätte, seinen Gang vorzeitig servieren zu lassen; er traute sich bloß nicht.
Hector aß nur sehr wenig, dafür leerte er zweimal sein Weinglas. Bevor er es zum drittenmal füllte, warf McTeer Oonagh einen Blick zu. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf; nur weil Hester sie gerade angesehen hatte, war es ihr nicht entgangen. McTeer zog die Flasche wieder zurück, und Hector ließ es wortlos geschehen.
Deirdra erwähnte etwas von einem wichtigen Abendessen, das demnächst stattfinden würde und an dem sie teilnehmen wollte.
»Und zweifellos brauchst du dafür ein neues Abendkleid«, bemerkte Alastair trocken.
»Das wäre schön«, gab sie zu. »Ich möchte dir doch nur Ehre machen, mein Lieber. Sollen die Leute vielleicht denken, die Frau des Prokurators müßte bei unterschiedlichen Ereignissen mit demselben Abendkleid vorliebnehmen?«
»Dazu haben sie kaum Gelegenheit«, bemerkte Quinlan mit einem Lächeln. »Ich weiß allein von sechs Kleidern in diesem Jahr.« Es schwang keinerlei Groll in seiner Stimme mit, nur Belustigung.
»Als Frau des Prokurators geht sie wesentlich häufiger zu verschiedenen Veranstaltungen als die meisten von uns«, beschwichtigte Mary. Leise fügte sie hinzu: »Gott sei Dank.«
Baird McIvor lächelte. »Du machst dir wohl nichts aus öffentlichen Abendessen, Schwiegermama?« Er sagte es so, als wüßte er die Antwort längst, und sein dunkles Gesicht drückte sowohl Belustigung als auch große Zuneigung aus.
»Nein, wirklich nicht«, stimmte sie zu, und ihre Augen leuchteten. »Dort sitzen eine Menge Leute herum, die sich zu wichtig nehmen, zu viel essen und sich ominöse Geschichten über alles und jeden erzählen. Und wenn sich mal einer einen Scherz erlaubt, würden sie ihn am liebsten mit einer Geldstrafe belegen und rausschmeißen.«
»Du übertreibst, Mutter.« Alastair schüttelte den Kopf.
»Richter Campbell mag vielleicht ein bißchen finster sein, seine Frau ist mehr als nur ein bißchen eingebildet und Richter Ross schläft manchmal am Tisch ein, aber die meisten anderen sind ganz in Ordnung.«
»Mrs. Campbell?« Mary hob die silbernen Augenbrauen, ihr Gesicht bekam etwas Säuerliches. »Solange üch lebe üst mür so etwas noch nücht passürt!« persiflierte sie in einem stark gekünstelten Akzent. »Als üch em klomes Mädchen war, haben wür nücht…«
Eilish kicherte und sah Hester an. Offensichtlich handelte es sich um eine Art Familienwitz.
»Als sie ein kleines Mädchen war, hat ihr Großvater am Hafen Fische verkauft, und ihre Mutter war das Laufmädchen für den alten McVeigh«, sagte Hector und verzog den Mund.
»Nein!« Oonagh konnte es nicht glauben. »Mrs. Campbell?«
»Doch – Jeannie Robertson, als sie zehn Jahre alt war«,
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