Dunkler Grund
müssen, dabei wußte sie längst, daß es sinnlos war. Es gab kein vernünftiges Argument gegen Callandras Vorschlag.
Callandra wartete; sie wußte, es war nur eine Frage der Zeit, bis Hester nachgeben würde.
»Ja…«, sagte Hester leise, »ja, Sie haben recht. Ich werde nach oben gehen, meine Haarnadeln suchen, und dann will ich sehen, ob ich Monk irgendwo ausfindig machen kann.«
»Sie können meine Kutsche nehmen«, bot Callandra ihr an. Hester lächelte matt. »Sie glauben mir wohl nicht, daß ich wirklich hinfahre?« Aber sie wartete nicht auf eine Antwort. Sie wußten beide, daß es der einzige Ausweg war.
Monk sah sie nachdenklich an. Sie waren in dem kleinen Salon. Es war Hesters Vorschlag gewesen, ihn als Empfangszimmer zu nutzen. Hier würden seine Klienten sich wesentlich wohler fühlen als in dem förmlich eingerichteten Büro, das ihr viel zu offiziell und entmutigend vorkam. Schließlich wirkte Monk selber, mit seinem glatten, kantigen Gesicht und dem durchdringenden Blick, schon einschüchternd genug.
Er stand am Kamin. Als er die Tür gehört hatte, war er sofort herausgekommen. Er hatte sie mit einem sonderbaren Blick begrüßt, einer Mischung aus Freude und Unwillen. Er hatte wohl auf einen Klienten gehofft. Mißbilligend betrachtete er das schlichte Kleid, das sie sich von Callandras Hausmädchen geborgt hatte, ihr blasses Gesicht und die hastig geordnete Frisur.
»Was ist passiert? Sie sehen schrecklich aus.« Das klang nach unverhohlener Kritik. Doch sogleich mischte sich Besorgnis in seinen Blick. »Sie sind doch nicht etwa krank?« Seine Stimme klang verärgert, als käme es ihm ungelegen, wenn sie krank wäre. Oder war es Angst?
»Nein, ich bin nicht krank!« erwiderte sie barsch. »Ich bin mit dem Nachtzug aus Edinburgh gekommen, zusammen mit einer Patientin.« Es fiel ihr schwer, die Worte gefaßt und sachlich vorzubringen. Gäbe es doch noch jemand anderen, an den sie sich wenden könnte, jemanden, der die Gefahr so gut einzuschätzen wüßte wie Monk und ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen würde!
Er wollte bereits zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, aber da er sie gut kannte und spürte, daß die Sache sehr ernst war, hörte er erst einmal aufmerksam und geduldig zu.
»Meine Patientin war eine alte Dame aus einer angesehenen Edinburgher Familie«, fuhr sie fort. Ihre Stimme wurde ruhiger und verlor an Schärfe. »Eine Mrs. Farraline. Ich war angestellt, um ihr spätabends ihre Arznei zu geben: Das war wirklich alles, was ich zu tun hatte. Abgesehen davon sollte ich wohl eine Art Reisebegleiterin für sie sein.«
Er unterbrach sie nicht. Sie lächelte bitter. Vor ein paar Monaten noch hätte er sie unterbrochen. Aber die Notwendigkeit, sich für seinen Lebensunterhalt Klienten suchen zu müssen, statt sie präsentiert zu bekommen wie als Polizeiinspektor, hatte ihn zwar nicht gerade Bescheidenheit, aber doch ein wenig Diplomatie gelehrt.
Er bot ihr einen Platz an und setzte sich in den Sessel gegenüber, immer noch aufmerksam zuhörend.
Schmerzhaft rief sie sich den eigentlichen Anlaß ihres Besuchs ins Gedächtnis. »Sie ist gegen halb zwölf eingeschlafen«, fuhr sie fort. »Jedenfalls hatte ich den Eindruck. Ich habe selber sehr gut geschlafen… auf dem Weg nach Edinburgh mußte ich mit einem Waggon zweiter Klasse vorlieb nehmen.« Sie schluckte. »Nachdem ich heute morgen aufgewacht war, kurz vor unserer Ankunft in London, hab’ ich versucht, sie zu wecken… aber da war sie schon tot.«
»Das tut mir leid«, sagte er. Es klang ehrliches Mitgefühl aus seinen Worten, aber auch etwas Abwartendes. Er konnte sich vorstellen, wie beunruhigt sie war. Auch wenn sie wahrscheinlich nichts dafür konnte, war es doch so etwas wie ein persönliches Scheitern, und zweifelsohne betrachtete sie es als solches. Bisher hatte sie ihm weder ihre Fehler noch ihre Betrübnis eingestanden – oder höchstens indirekt. Aber sie war sicher nicht nur gekommen, um ihm von dem Tod der alten Dame zu berichten. Er stand auf, setzte einen Fuß auf das Kamingitter, lehnte die Schulter gegen den Sims und wartete darauf, daß sie fortfuhr.
»Natürlich mußte ich den Bahnhofsvorsteher informieren und danach ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, die gekommen waren, um sie abzuholen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich den Bahnhof verlassen durfte. Ich bin von dort aus gleich zu Callandra gefahren…«
Er nickte. Das hatte er nicht anders erwartet. Er hätte es genauso gemacht. Callandra
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