Dunkler Grund
war wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, dem er sich anvertrauen würde. Niemals hätte er Hester freiwillig auch nur eine einzige seiner Schwächen offenbart. Natürlich hatte sie ein paar davon kennengelernt, im Gegensatz zu Callandra, aber das war etwas anderes – es hatte sich nicht vermeiden lassen.
»Während ich dort war, bin ich nach oben gegangen, um nach ein paar Haarnadeln zu suchen…«
Sein Lächeln war äußerst ironisch. Sie wußte, daß ihr Haar noch immer in Unordnung war und was er darüber dachte. Ihr Ton wurde wieder schärfer.
»Als ich meine Hand in die Reisetasche steckte, fand ich statt der Nadeln eine Brosche… eine Brosche mit Diamanten und grauen Perlen. Meine ist es nicht, und ich bin ziemlich sicher, daß sie Mrs. Farraline gehört hat. Sie hat sie mir beschrieben, als wir uns darüber unterhielten, was sie in London alles unternehmen und dazu anziehen würde.«
Sein Gesicht verfinsterte sich. Er setzte sich wieder in den Sessel und wartete geduldig darauf, daß sie sich auch endlich setzen würde.
»Im Zug hat sie die Brosche also nicht getragen?« fragte er.
»Nein! Das ist es ja! Sie hat sie zu Hause in Edinburgh gelassen. Das Kleid, zu dem sie sie immer trug, hatte einen Fleck!«
»Hat sie nur zu einem Kleid gepaßt?« fragte er erstaunt, aber der Zweifel in der Stimme spiegelte sich nicht in seinen Augen. Sein Verstand war schon ein Stück voraus, hatte ihre Angst längst begriffen.
»Graue Perlen«, erklärte sie unnötigerweise, »passen zu den meisten Farben nicht und bleiben stumpf.« Sie redete weiter, um nicht eingestehen zu müssen, was es wirklich bedeutete. »Sogar Schwarz wäre nicht…«
»Gut!« unterbrach er sie. »Sie hat also gesagt, sie hätte die Brosche zu Hause gelassen? Ich vermute, sie hat ihre Koffer nicht selber gepackt. Für so was dürfte sie ein Hausmädchen gehabt haben. Und während der Reise war der Koffer doch sicher im Gepäckwagen. Haben Sie das Hausmädchen kennengelernt? Hatten Sie Streit mit ihr? War sie neidisch, weil sie gerne selber mit nach London gefahren wäre?«
»Nein! Sie wollte sicher nicht fahren. Und Streit hatten wir auch nicht. Sie war sehr freundlich.«
»Und wer hat die Brosche in Ihre Tasche gesteckt? Sie wären nicht hier, wenn Sie es selber getan hätten!«
»Seien Sie nicht albern!« sagte sie wütend. »Natürlich war ich es nicht selber. Wenn ich eine Diebin wäre, würde ich es Ihnen bestimmt nicht auf die Nase binden!« Je mehr die Angst von ihr Besitz ergriff, je deutlicher sie spürte, wie prekär ihre Situation war, um so lauter und schriller wurde ihre Stimme.
Er sah sie traurig an. »Wo ist die Brosche jetzt?«
»In Callandras Haus.«
»Da die arme Frau nun mal tot ist, kann man sie ihr nicht einfach zurückgeben. Und wir wissen nicht, ob sie zufällig verlorengegangen oder Teil eines verbrecherischen Plans ist. Das könnte alles sehr unangenehm werden.« Er biß sich nachdenklich auf die Lippe. »Trauernde Menschen sind oft irrational und nur zu gern bereit, ihre Trauer in Zorn zu verwandeln. Zorn ist einfacher zu ertragen, und es kann erleichternd sein, einen Sündenbock zu haben. Die Rückgabe der Brosche sollten wir in professionelle Hände legen; es muß jemand sein, der in diesem Fall vorbehaltlos auf Ihrer Seite steht. Wir sollten mit Rathbone sprechen.« Ohne darauf zu warten, ob sie mit seinem Vorschlag einverstanden war, nahm er Mantel und Hut von der Garderobe und ging zur Tür. »Also los, was sitzen Sie noch herum«, sagte er schroff. »Je eher es erledigt ist, desto besser! Außerdem könnte ich einen Klienten verlieren, wenn ich meine Zeit nutzlos vertrödle.«
»Sie müssen nicht mitkommen!« erwiderte sie und erhob sich.
»Ich finde schon alleine zu Oliver. Ich danke Ihnen für Ihren Rat.« Sie ging an ihm vorbei aus dem Zimmer und steuerte auf den Eingang zu. Draußen regnete es, und als sie die Haustür öffnete, erschauerte sie vor der Kälte, die so recht zu ihrer Angst und dem Gefühl der Einsamkeit paßte.
Er ignorierte ihre Worte, folgte ihr nach draußen, schloß hinter sich die Tür und machte sich auf den Weg zur Hauptstraße, wo sie einen Hansom finden würden, um sich von der Tottenham Court Road durch die City fahren zu lassen, nach Westen, zu den Inns of Court und zur Vere Street, wo Oliver Rathbone sein Büro hatte. Sie mußte sich ihm anschließen, wenn sie keinen Streit vom Zaun brechen wollte, was ziemlich töricht gewesen wäre.
Es herrschte starker
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