Dunkler Grund
stellte Monk eine ganz unverzeihliche Frage.
»Besitzen Sie es immer noch, Madam?«
Sie gab eine nicht minder unverzeihliche Antwort.
»Nein, ich habe es weggegeben.«
»Wie klug von Ihnen«, gab Monk mit plötzlicher Boshaftigkeit zurück. »Dieses Kleid«, er warf einen Blick auf ihre üppigen Formen, »ist Ihrem… Status doch wesentlich angemessener.« Er hatte sich das Wort »Alter« gerade noch verkneifen können, aber die anderen hatten ihn wohl richtig verstanden.
Die Frau wurde puterrot, sagte jedoch nichts. Auch Deirdras Wangen waren von einem Hauch Rosa überzogen, und in diesem Augenblick wußte Monk, auch wenn er keinen Beweis dafür hatte, daß Deirdra ihr Geld ganz sicher nicht für Kleider ausgab, wie sie behauptete. Sie kaufte sie aus zweiter Hand und hatte wahrscheinlich einen diskreten Schneider, der sie umarbeitete und so weit änderte, daß sie nicht gleich auf den ersten Blick wiederzuerkennen waren.
Es lag etwas Flehendes in dem Blick, mit dem sie ihn über das Lachspüree mit Gurke und die Überreste des Sorbets hinweg ansah.
Er lächelte und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Als er Oonagh begegnete, sah er ihr fest in die Augen und sagte, er wäre der Sache auf der Spur, habe aber noch nichts gefunden. Die Lüge bereitete ihm nicht die geringsten Probleme.
In der morgendlichen Post war ein Brief von Callandra. Monk riß ihn auf und las:
Mein lieber William, ich fürchte, ich habe sehr schlechte Neuigkeiten für Sie. So oft man es mir erlaubte, habe ich Hester besucht. Sie ist sehr tapfer, aber man sieht ihr deutlich an, wie sehr die Sache sie mitnimmt. Ich hatte törichterweise angenommen, die Zeit im Lazarett von Scutari hätte sie gegen Unannehmlichkeiten abgehärtet. Natürlich ist es etwas ganz anderes. Die physische Erschwernis fällt nicht ins Gewicht. Es ist das seelische Leiden, das endlose Einerlei der Tage, an denen sie nichts zu tun hat, als sich in der Phantasie das Schlimmste auszumalen. Nichts schwächt einen Menschen so sehr wie ständige Angst.
Ich fürchte, die schlimmste Neuigkeit von allen hätten wir eigentlich voraussehen müssen, doch zu meinem größten Bedauern haben wir das versäumt. Andrerseits hätten wir nichts daran ändern können, auch wenn wir es früher gewußt hätten: Weil das Verbrechen begangen wurde, als der Zug sich noch auf schottischem Boden befand, wird der Prozeß gegen Hester in Edinburgh stattfinden. Wir haben keinerlei Möglichkeiten, dagegen Einspruch zu erheben. Sie wird nach Schottland gebracht und vor dem High Court in Edinburgh angeklagt. Da Oliver nur nach englischem Recht verteidigen darf, kann er sie nicht vertreten!
Natürlich werde ich mich um den besten Strafverteidiger bemühen, den ich in Schottland finden kann, aber ich gestehe, es bedrückt mich sehr, daß es nicht Oliver ist. Er hat den unersetzlichen Vorteil, fest von ihrer Unschuld überzeugt zu sein.
Trotzdem dürfen wir nicht den Mut verlieren. Solange die Schlacht nicht geschlagen ist, haben wir sie nicht verloren und wir werden nicht verlieren!
Mein lieber William, tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, um die Wahrheit herauszufinden. Weder Zeit noch Geld spielen dabei eine Rolle. Schreiben Sie mir, was Sie benötigen.
Mit den aufrichtigsten Grüßen, Callandra Daviot Er stand im milden Licht der Herbstsonne. Das Blatt Papier verschwamm ihm vor den Augen. Er zitterte. Rathbone durfte sie nicht verteidigen! Erst jetzt wurde ihm richtig bewußt, wie sehr er auf Rathbones Fähigkeiten gezählt hatte, welchen Einfluß die Siege der Vergangenheit auf seine Gedanken, seine Hoffnung hatten.
Er brauchte Minuten, um einen klaren Kopf zu bekommen. Vor dem Haus hielt ein Rollwagen. Der Kellermeister brüllte etwas, und der Kutscher fluchte. Das Stampfen der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster und das Rattern der Räder waren durch das angelehnte Fenster deutlich zu hören.
Im Hause Farraline hatte sich jemand an Marys Arznei zu schaffen gemacht, mit der Absicht, sie zu töten. Jemand hatte Hester Marys Perlenbrosche in die Tasche gesteckt. Aus Angst? Rache? Ein Motiv, auf das er noch nicht gekommen war?
Wohin wollte Eilish in der King’s Stahle Road? Wer war der ungehobelte, heruntergekommene Mann, der auf Deirdra gewartet und mit dem sie sich mitten in der Nacht unterhalten hatte? Ein Liebhaber? In den Klamotten bestimmt nicht. Ein Erpresser? Schon eher. Womit erpreßte er sie? Mit ihrer Verschwendungssucht? Hatte sie gespielt, hielt sie einen Liebhaber aus,
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