Dunkler Grund
die Luft brannte auf den Lippen und in der Lunge. Er war froh, daß sie so schnell ging, auch wenn Tempo und Leichtigkeit ihres Schritts ihn erstaunten. Von einer so trägen Person hätte er diese Ausdauer nicht erwartet.
Wie neulich, so ging sie auch diesmal an den Princes Street Gardens vorbei, die Lothian Road entlang und bog nach links in die King’s Stahles Road, beinahe schon im Schatten der Burg, deren massige, gezackte Umrisse nur ein dichteres Schwarz vor einem wolkenverhangenen Himmel waren.
Sie überquerte die Spittal Street und ging auf den Grassmarket zu. Sie hatte doch keine Affäre mit jemandem, der in einer solchen Gegend wohnte! Hier gab es nur Händler, Wirte und Reisende, so wie er. Und was war mit Baird McIvor? Sollte das Gefühl, daß er zwischen ihnen wahrgenommen zu haben meinte, tatsächlich nur einseitig sein, dann hatte er sich täuschen lassen wie selten zuvor!
Aber das stimmte ja gar nicht. Seine Neigung, sich von Frauen, schönen Frauen, täuschen zu lassen, war nahezu grenzenlos. Leidvoll erinnerte er sich an Hermione und daran, wie er ihre sanften Worte und Taten als Ausdruck des Mitleids mißverstanden hatte, dabei war es nur das tiefe Bedürfnis gewesen, sich alles vom Leib zu halten, was ihr Schmerz verursachen konnte. Sie hatte immer den einfachsten Weg gewählt, weil ihre Seele ohne den Hunger war, der ihr vielleicht geholfen hätte, den Schmerz zu überwinden und sich zu holen, was sie sich wünschte. Ihr hatte die Leidenschaft gefehlt, jegliches Bedürfnis zu geben oder zu nehmen. Sie hatte Angst vor dem Leben gehabt. Nie zuvor hatte er sich in jemandem so getäuscht wie in ihr.
Konnte es also sein, daß Eilish den gutgläubigen Baird ebenso täuschte wie ihren wachsamen, viel mißtrauischeren Ehemann? Und Oonagh? Ob sie auch nur eine Ahnung davon hatte, was ihre geliebte kleine Schwester in der Nacht so alles trieb?
Ob Mary es gewußt hatte?
Im Grassmarket waren immer noch Leute unterwegs. Sie standen im gelben Lichtschein der spärlichen Gaslaternen, lehnten an Hausmauern und stierten vor sich hin. Ein gelegentliches, abgerissenes, trunkenes Lachen gab Auskunft über ihren Zustand. Eine Frau in zerschlissenen Kleidern torkelte vorbei, einer der Männer rief ihr etwas nach. Sie antwortete ihm in so breitem Dialekt, daß Monk die Worte nicht verstand, auch wenn an ihrer Bedeutung kein Zweifel bestehen konnte.
Eilish ignorierte die Leute, aber sie schien keine Angst vor ihnen zu haben; ohne zu zögern ging sie an ihnen vorbei und setzte ihren Weg unbeirrt fort.
Monk vergaßt nicht sich umzudrehen. Wenn ihm tatsächlich jemand folgte, dann bemerkte er ihn nicht. Ein Mann im schwarzen Mantel schlenderte zehn, zwölf Meter hinter ihm die Straße entlang, aber nichts deutete darauf hin, daß er Monk auf den Fersen war, und er nahm auch keinerlei Notiz davon, als Monk ein paar Sekunden lang stehenblieb. Inzwischen war er beinahe auf seiner Höhe.
Sie näherten sich der Candlemaker Row, wo Deirdra abgebogen war und hinter der sich die Slums des Cowgate erhoben, mit ihren vielen Treppen und engen Gäßchen zwischen Holyrood Road und Canongate. Sie waren jetzt beinahe drei Kilometer gelaufen, und Eilish, die keinerlei Anzeichen von Ermüdung zeigte, schien ihr Ziel noch lange nicht erreicht zu haben. Sie kannte sich offensichtlich sehr genau hier aus. Nicht ein einziges Mal mußte sie stehenbleiben, um sich zu orientieren.
Sie überquerte die George IV Bridge, und Monk warf einen Blick hinauf zu der wunderschönen Terrasse mit einer klassizistischen Fassade wie in der Old Town, aus der sie kamen. Er hatte damit gerechnet, daß sie abbiegen und dort hinaufsteigen würde. Das war ein Ort, wo eventuell ein Liebhaber wohnen könnte. Doch was wäre das für ein Liebhaber, der es zuließ, daß eine Frau zu ihm kam, mutterseelenallein und mitten in der Nacht?
Ganz am Ende, nur noch hundert Meter entfernt, war der Lawnmarket, wo der berüchtigte Deacon Brodie gelebt hatte, jener beleibte Stutzer, der – sechzig Jahre war es her – bei Tag zu den Grundpfeilern der Edinburgher Gesellschaft zählte und nachts als Einbrecher unterwegs war. Die Leute in den Gasthäusern, denen Monk in der Hoffnung, etwas über die Farralines zu erfahren, bereitwillig zugehört hatte, hatten ihm von Deacon Brodies Niedertracht berichtet, der bei Tag die Häuser der Leute inspizierte und sie in Sicherheitsfragen beriet, um sich diese Kenntnisse später zunutze zu machen. Er hatte als angesehener Mann am
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