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Dunkler Spiegel

Titel: Dunkler Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diane Duane
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zu den Regalen um, hielt verzweifelt nach etwas Ausschau, worauf er sich verlassen konnte, nach einem Atemzug klarer, sauberer Luft in diesem Miasma der Destruktivität und Grausamkeit, und griff nach Shakespeare.
    Das Buch öffnete sich typischerweise bei einer seiner Lieblingsstellen am Ende von Der Kaufmann von Venedig . Trotz seines Elends lächelte er, als er sah, welche Seite es war: Portias Rede.

Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang,
    Sie träufelt, wie des Himmels milder Regen
    Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet:
    Sie segnet den, der gibt, und den, der...

    Er kniff die Augen zusammen. Die Erwartung und Vertrautheit hatten ihn getäuscht, denn diese Worte standen dort gar nicht. Oder, nein, einige von ihnen schon, aber... Er las die Seite.

    Portia: Und hat nun Shylock denn kein Recht auf Recht
    wie jeder andre Mann hier in Venedig?
    Und hat Antonio, der Händler dort,
    die Härte des Vertrags nicht wohl gekannt
    als er ihn unterschrieb? O ja, er hat,
    und doch hat er gelacht und sich gebunden,
    auch wenn ihm gar nichts lag an diesem Jud'?
    Sucht er um Recht schon an, erwäget dies:
    Der Jud hat ihm das Gold dennoch geliehn,
    vertrauend auf die Erfüllung des Vertrags.
    Nun bittet Antonio dieses Gericht
    um Gnade statt um die Gerechtigkeit.
    Was, soll denn die Kraft unserer Gesetze
    gebeugt werden durch Gnade und Nachsicht,
    die Eiche sich krümmen, während das Schilf höhnt?
    Die Art der Gnade wird verdient,
    nicht einfach verstreut, geworfen wie Perlen
    vor die Säue, damit dann jeder Narr,
    der blind in sein Verderben läuft, so einfach
    »Habt Gnade!« rufen kann. Denn Gnade wird
    sehr billig, wenn man sie zu oft vergibt.

    Shylock: Wie ich dich ehr, o weiser, junger Richter!
    Erst mein Verlust: Dann mein Recht und Anspruch!

    Portia: Niemand soll spielen mit unsren Rechten
    und auf Schonung hoffen. Steht nicht in dem Vertrag
    ›ein Pfund Fleisch‹? Und wer kein Kind mehr ist,
    der weiß, das Fleisch geschnitten wird nicht ohne
    Blutvergießen. Solch listige Gedanken
    verraten sich selbst schon als Verrat, als
    Täuschung schon im Ei, bevor es ausgeschlüpft.

    Shylock: Sehr wahr: o weiser und gerechter Richter!
    Wir verschwenden Zeit: So sprecht ein Urteil!

    Portia: Ein Pfund von Antonios Fleisch ist dein:
    Nach den Rechten kannst du es verlangen.
    Und sieh das Blut, das nun beim Schneiden fließt,
    als Zinsen für die dreitausend Dukaten.

    Shylock: Verehrter Richter! Ein Urteil! Bringt ihn her!
    Antonio wird festgehalten. Er schneidet ihm das Herz
    heraus und wiegt es .

    Portia: Ich sterbe! Ein Fluch auf euer Haupt!

    Shylock: Pfui, Worte solcher Schurken treffen nicht.
    Nein, 's ist zuviel. So gebt es ihm zurück.
    Er wirft den Überschuß zurück.

    Entsetzt überflog Picard den Text des Stücks und fand lediglich lange, humorvolle Passagen über die Torheit von Leuten, die Übereinkünfte getroffen hatten und dann von der vermeintlichen Freundlichkeit der anderen Parteien abhängig waren. Das ganze Stück war ein Beispiel für den Triumph des Staates über die Kleinkariertheit individueller Interessen und Empfindungen und so aufdringlich und sensationell geschrieben wie Des Rächers Tragödie , und die Bühnenanweisungen waren dementsprechend. Als Lorenzo Jessica betrügt und ihr dann ins Gesicht lacht, lautete die ihre: Sie läuft in sein Schwert und bringt sich um.
    Picard schluckte; sein Hals war wieder ganz trocken. Von der schwarzen Tinte auf den vergilbten Seiten fühlte er sich schlimmer verraten als von irgend etwas anderem, was ihm bislang zugestoßen war. Er blätterte die Seiten um, und was er fand, entsetzte ihn von Sekunde zu Sekunde mehr: ein Shakespeare, der in allen Teilen, die nicht bereits schrecklich waren, schrecklich verändert worden war. Titus Andronicus entsprach größtenteils dem, was er kannte. Macbeth ebenfalls, und seltsamerweise auch der Lear ; aber er blätterte den letzteren durch und stieß unglücklich den Atem aus – es war fast ein Stöhnen –, als er feststellte, daß ein kleiner Teil fehlte: die, in der Cornwalls »erster Diener« versucht, den alten Gloster davor zu bewahren, daß seine Augen ausgerissen werden, und umgehend getötet wird – nur ein paar Zeilen im Original, die jetzt völlig verschwunden waren. Die anderen Bedienten blieben stumm, und niemand erhob auch nur die Stimme, um dagegen zu protestieren, was für ein Schicksal Lears haßerfüllte Tochter und ihr Gatte dem alten Mann zugedacht hatten.
    Langsam schlug Picard das Buch zu,

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