Dunkler Spiegel
stellte es zurück und betrachtete mißtrauisch die Bibel. Wunderschöne Sprache hin oder her, er entschloß sich, sie nicht zu öffnen.
Einige andere Bücher sah er sich jedoch kurz an – gerade lange genug, um festzustellen, daß bei manchen die Handlung und einige Einzelheiten verändert worden waren, bei anderen hingegen nicht. Die Ilias sah so aus, wie er sie kannte. Danach schien sich jedoch etwas eingeschlichen zu haben – eine langsame, unerbittliche moralische Umkehrung. Freundlichkeit, Mitgefühl und Nächstenliebe schienen für Zeitverschwendung erklärt worden zu sein; Gier, Gewalt, das Überleben der Stärkeren – in diesem Fall der Skrupellosesten – schienen als nützlicher angesehen zu werden, wollte eine Spezies »in der Welt vorankommen«. Platos perfekte Regierung war nun eine, in der »der weise Herrscher der Bevölkerung im angemessenen Verhältnis Furcht zuteil werden läßt«. Die Tugend des Staatsbürgers spielte bald nur noch eine Rolle, wenn sie dem Vorankommen diente. Der Erwerb, besonders von Macht, aber auch materieller Güter und von Wohlstand – haben und behalten , auf wessen Kosten auch immer –, schien nun von höchster Bedeutung zu sein. Es war eine skrupellose Welt, die begeistert die schlimmsten vieler Charaktereigenschaften zu verkörpern schien, die die Menschheit jahrtausendelang abzuschütteln versucht hatte. Einige, die in Picards Welt abgeschüttelt worden waren, standen hier in voller und böser Blüte. Hier und da leuchtete noch ein kleines Licht der Tugend, eine freundliche Tat oder ein Augenblick des Mitleids durch die Prosa. Shakespeare war nicht völlig verloren; Kipling, so eigenwillig wie eh und je, war noch er selbst; genau wie Aristoteles. Aber je jünger die Bücher waren, desto korrupter kam ihm ihre Philosophie vor – und selbst die ältesten verrieten ihn abrupt, denn am Ende der Ilias dieses Universums tötete Achilles den alten König Priamus, während der mitleiderregende alte Mann vor ihm auf den Knien lag und unter Tränen um die Freigabe von Hektors Leiche für das Bestattungsritual bat. Dieser eine Augenblick in dem Werk, als dieser schreckliche Mann Gnade zeigte , dachte Picard, klappte die Ilias zu und stellte sie zurück, dieser eine Augenblick der schrecklichen Pein und Menschlichkeit... Aber nicht hier, hat es den Anschein. Nicht hier. Nun bestand kein Zweifel mehr daran, warum die schrecklichen Ereignisse des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts dieser Erde zu dem Ergebnis geführt hatten, das er mittlerweile kannte. Sie waren vielleicht das letzte Aufblühen all dieser Geschichte: kein Wendepunkt, wie er angenommen hatte, sondern eher das letzte Tosen einer Lawine, die Tausende von Jahren zuvor langsam angefangen und dabei schrittweise eine Schicht der Kaltherzigkeit und Grausamkeit nach der anderen der Natur der Menschheit hinzugefügt hatte.
Er empfand Mitleid und Entsetzen, wenn er an all die unschuldigen Leben in diesem Universum dachte, die unter den Folgen dieses Unterschieds zu leiden hatten; und er hatte auch Mitleid für die »Eroberer«, das Empire und seine Verbündeten, die sich vorstellten, sie würden mit diesem Wirbelsturm fliegen und ihn beherrschen. Ich muß doch irgend etwas tun können, dachte er. Etwas, um das alles zu beenden, das Leid, die mutwillige Zerstörung.
Aber was...? Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Doch vorher mußte er sich um noch dringendere Angelegenheiten kümmern. »Computer, öffne die Datei mit den Anweisungen für diese Mission.«
»Retina-Scan erforderlich«, erwiderte die Computerstimme. Er beugte sich vor und hoffte verzweifelt, daß sein Gegenstück keine Verletzungen erlitten oder sich Operationen unterzogen hatte, die ihm erspart geblieben waren. Das Licht blitzte rot in seinem Auge.
»Retina-Scan bestätigt«, sagte der Computer, die ersten Daten erschienen auf dem Bildschirm...
... und die Tür öffnete sich, und Beverly Crusher kam herein.
Ich dachte, ich hätte sie verriegelt , war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf fuhr, dicht gefolgt von: Soll jemand sehen, daß ich mir diese Daten anschaue? Er legte die Hand auf die Konsole und löschte den Schirm. »Programm anhalten«, sagte er zu dem Computer.
Er war so verärgert, daß er die Ärztin fast gefragt hätte, wann das Anklopfen aus der Mode gekommen war, doch irgend etwas an ihrem Gesichtsausdruck hielt ihn davon ab. Sie kam langsam um den Schreibtisch und sah ihn an. Ihr Blick wirkte sehr müde.
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